Spiegelkind (German Edition)
stinklangweilige Zehntklässlerin von früher. Ich war Pheentochter und es schmeichelte mir schon etwas, in bewundernde Augen zu schauen.
Mir war aber auch klar, dass diese Bewunderung nichts mit mir persönlich zu tun hatte. Wäre meine Mutter immer noch zu Hause gewesen, vormittags die illegale Malerin in ihrem Atelier und nachmittags Hausfrau und Mutter, die ihr Heim nie verließ und trotzdem oft erst zur Mittagszeit den Frühstückstisch abräumte, dann hätte ich weder gewusst, dass sie eine Phee ist, noch dass Kenner illegaler Kunst entzückt die Augen verdrehten, wenn sie ihren Namen hörten.
Ich dachte darüber nach, was ich von Justus Melchior gehört hatte. Ich hatte ihn gegen Ende meines Besuchs nach dem Sorgerechtsprozess gefragt. Ob es da etwas gegeben habe, was ich hätte wissen müssen. Er hatte lange an seinem Bart gezwirbelt und schließlich gesagt:
»Wissen Sie, meine Liebe, es gab da einige Sachen, die mich erstaunt haben. Ihr Herr Papa hätte es leicht gehabt, Ihrer wunderbaren Mama den Zugang zu ihren Kindern komplett zu versperren. Man ist ja als Normaler immer sehr gekränkt und rachsüchtig, wenn die Phee gehen will, obwohl man eigentlich wissen muss, dass es einfach nie lange funktioniert. Das liegt in der Natur. Ihr Vater jedenfalls ließ sich auf meine Vorschläge ein. Es wirkte, als wollte er Laura nicht gegen sich aufbringen.«
»Sie reden so, als wäre es unmöglich, dass er sie einfach geliebt hat. Er wollte sie nicht gehen lassen. Aber auch wenn er unglücklich war über ihre Entscheidung, ist es doch trotzdem möglich, dass er sich nicht rächen wollte, sondern sich in Frieden von ihr trennen«, sagte ich.
»Liebe würde ich es eher nicht nennen, nein, nein«, winkte Justus Melchior ab.
Ich ärgerte mich. Es war mein Vater, über den er hier gerade redete. Und auch wenn dieser Anwalt seine Gründe hatte, Normale nicht zu mögen, ging es jetzt doch etwas zu weit, ihnen alle Gefühle abzusprechen.
»Wollen Sie damit sagen, wir können gar nicht lieben?«
Der Anwalt sah mich über den Brillenrand an.
»Ich bin kein Seelenklempner«, sagte er streng. »Ich bin ein Anwalt. Ich war bei vielen Scheidungen dabei. Ich habe um Pheen gekämpft und es ist nicht gerade einfach, wenn einem die Hände dabei gebunden sind. Wenn man mit ansehen muss, wie wunderbare, zarte, schutzlose Wesen …« Er machte eine Pause, dann winkte er ab. »Zurück zu Ihnen. Bei Ihren Eltern war mir etwas suspekt. Aber leider sind Pheen sehr verschwiegene Wesen – von Ihrer Mutter war ich ja auch nicht gerade großzügig mit Informationen versorgt worden, obwohl sie mir bei meiner Arbeit sicher sehr weitergeholfen hätten!«
»Willkommen im Klub«, seufzte ich.
Jetzt drehte ich seine Worte hin und her und wurde einfach nicht schlauer.
Ich war ja mal durchaus stolz darauf gewesen, wie gut ich mit der Scheidung meiner Eltern zurechtkam. Wie leicht und glatt und reibungslos das Ganze über die Bühne gegangen war – wie ich jedenfalls bis jetzt vermutet hatte.
Die Scheidung meiner Eltern hatte meine heimelige, behütete Welt nicht erschüttern können. Das Verschwinden meiner Mutter hatte dagegen alles zerstört. Und es war auch meine Schuld – über einiges hätte ich mir schon früher Gedanken machen müssen. Wo zum Beispiel hatte meine Mutter jede zweite Woche gelebt, wenn sie aus dem Haus ausziehen musste? Und wovon? Hatte sie Freunde, die ich nicht kannte? Wieso hatte ich mich das nie gefragt?
Meine Mutter hatte nie etwas erzählt, was mich hätte bekümmern können. Sie beklagte sich nicht. Sie war wirklich verschwiegen. Bei meinem Vater war es anders – ich wusste am Ende eines jeden Tages ziemlich genau Bescheid, wer ihm heute den Parkplatz vor der Nase weggenommen hatte. Oder versucht hatte, ihn beim Bäcker um Wechselgeld zu betrügen.
Wieso hatte ich mich nie gefragt, wie man sich als illegale Malerin fühlte, der es verboten war, ihre Quadren jemandem zu zeigen? Ich war die ganze Zeit unerschütterlich davon ausgegangen, dass meine Mutter glücklich war, solange sie uns hatte und malen konnte, nur für sich. Wieso hatte ich mein ganzes verlogenes kleines Leben für normal gehalten?
Ich musste versuchen, mich zu ändern, und zwar von außen nach innen.
Ich weiß selber nicht, wie es passiert, dass ich plötzlich auf der Bank sitze, das Kind auf meinem Schoß, ich drücke es an mich, fahre mit der Hand über die Verbände.
»Was ist denn mit dir passiert, mein Süßes?«, frage ich und wiege
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