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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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den schweren, kleinen Körper in meinen Armen.
»Aua«, wimmert das Kind, es drückt seinen Kopf gegen meine Schulter.

Das Dementio
    Ich schaute in den Spiegel und wusste, dass ich so nicht mehr aussehen wollte. Wenn ich schon in der Schule die Krähenuniform tragen musste, dann wenigstens privat keine in unterschiedlichen Brauntönen karierten Röckchen, wie sie alle Mädchen unseres Viertels in ihren Schränken hängen hatten, als hätten sie sich darauf verständigt, auch privat im Dienst der Normalität zu sein.
    Ich streifte meinen Rock ab und warf ihn in die Ecke. Ksü hielt mir eine ihrer Jeans hin. Ich zog sie an, sie passte wie eine zweite Haut. Sie war ungleichmäßig ausgeblichen und hatte Löcher an den Knien. So etwas hatte ich noch nie getragen. Eine Freak-Klamotte. Hätte mein Vater mich so gesehen, hätte er mich auf der Stelle zum Umziehen geschickt. Und bis vor Kurzem hätte ich es auch sofort gemacht.
    »Cool«, sagte Ksü. »Etwas ungewohnt, aber steht dir.«
    Mein weißes Unterhemd ließ ich an. Ich hatte auf dem Campus gesehen, dass dort junge freakige Frauen Unterwäsche als Oberbekleidung trugen – seidene Unterröcke oder enge Unterhemden mit Spitzenbesatz wie das meine. Ich blickte in den Spiegel. Es sah unanständig, aber irgendwie auch gut aus.
    Mit den Haaren musste irgendetwas passieren. Ich ging, wie Ingrid auch, alle vier Wochen zum Friseur, um mir die Spitzen schneiden zu lassen. Ein paar Strähnen steckte ich mit Haarklammern zurück, damit sie nicht ins Gesicht hingen. Jetzt löste ich die Spangen und Klammern. Es ziepte und ich zerrte so ungeduldig, dass ich mir einige Haare ausriss.
    »Schere und Farbe«, sagte ich.
    Ksü hielt mir schweigend eine Schere hin. Ich schnitt in das hinein, was ich immer für meine Frisur gehalten hatte – gnadenlos, nah an der Wurzel. Eine Haarsträhne fiel herunter. Ich erledigte die nächste und die nächste. Ich kam regelrecht in Fahrt. Mein Kopf sah immer kleiner und zerrupfter aus.
    »Hör auf«, sagte Ksü nach einer Weile. »Das reicht jetzt.«
    Ich legte die Schere mit einer gewissen Wehmut aus der Hand. Schüttelte den Kopf, abgeschnittene Härchen flogen umher. Es war nicht mehr viel übrig.
    Ich war schon fast nicht mehr ich.
    »Gefällt mir.« Ich nickte meinem Spiegelbild zu und schaute mir die Farbdosen an, die Ksü in einer Kiste vor mich gestellt hatte. Braun, Rot, Schwarz, Blond. Alles nicht das Richtige. Endlich fand ich die Tube, die ich haben wollte. Blau.
    »Oi«, sagte Ksü, als ich dunkelblauen Schaum in meine Handfläche drückte und dann in meinem Haar verteilte, immer wieder, ganz gründlich. Aber viel von dem Zeug brauchte ich nicht, bei dem Rest Haar, den ich auf meinem Kopf gelassen hatte.
    Ich stellte die Dose beiseite und massierte meinen Kopf mit beiden Händen, verstrich den Schaum, rieb ihn ein und sah zu, wie mein Haar unter meinen Fingern die Farbe veränderte, von Braunrot zu Gelb, zu Weiß, zu einem Blau, das mit jeder Sekunde greller wurde.
    Im Spiegel sah ich Ksü, die hinter meinem Rücken stand und mich beobachtete.
    Mein Haar trocknete schnell. Es glänzte im Lampenlicht. Es wurde blau wie das Meer, dann blau wie der Himmel. Ich war nicht mehr Juli, die harmlose Normale in mindestens dritter Generation. Ich war Pheentochter, eine Aussätzige. Ich sah aus wie ein Freak. Morgen könnte ich mir zur Abwechslung einen Regenbogen auf die Haare sprühen.
    »Sehe ich nicht aus wie eine von euch?«, fragte ich.
    »Eine von wem?« Ksü lächelte.
    »Du weißt doch genau, was ich meine.«
    »Leider nein.«
    Ich zuckte mit den Schultern. Es war doch so einfach – hier die Normalen, dort die Freaks, dazwischen die Pheen. Jeder war irgendwas.
    Nur Ksü und ihr Bruder mussten alles immer so kompliziert machen.
    In dieser Nacht hatte ich einen Traum, der so merkwürdig war, dass ich sofort wusste: Ich werde mit niemandem darüber sprechen, werde ihn in den tiefsten Winkel meiner Erinnerung schieben, mit Spinnweben der Vergesslichkeit überziehen, nie wieder rausholen. Es war mehr als ein Traum, es war eher, als wäre ich irgendwo gewesen und hätte etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen dürfen.
    Ein Mann und eine Frau unterhielten sich, ich stand genau hinter ihnen, sah ihre Umrisse, Schultern, Haare, hörte das Rascheln ihrer Stimmen.
    »Wenn du mir nicht hilfst, werde ich sterben«, sagte der Mann.
    »Wenn du am Leben bleibst, zahlst du einen hohen Preis«, sagte die Frau. »Und ich und meine Kinder auch.«
    »Ich

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