Spiegelkind (German Edition)
warst aber lange drin!« Ksü hielt für genau die eineinhalb Sekunden an, die ich brauchte, um mich hinter ihr in den Sattel zu schwingen. »Ich hab tausend Runden gedreht, bin hier immer wieder vorbeigefahren, aber die Vorhänge waren immer zugezogen, ich konnte nichts sehen. War es denn gut?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie hat meine Mutter gekannt. Sie treibt Schabernack mit der Wahrsagerei, macht sich einen Spaß draus und kassiert ab. Aber sie hat mir nicht gesagt, wo meine Mutter ist. Nur, dass die Sonderbrigade sie nicht gekriegt hat.«
»Und mehr hat sie dir nicht gesagt?« Ksü schaute enttäuscht. »Das wissen wir doch längst. Warum hat sie dir nicht vertraut?«
»Vielleicht weil ich eine Normale bin und nicht eingeweiht werden darf in die ach so geheimnisvolle Pheenwelt.«
»Du bist eine Tochter, die verzweifelt ihre Mutter sucht!«
»Ja«, sagte ich. »Eine Mutter, die gerade irgendwo in Sicherheit ist und mich und meine Geschwister ohne ein Wort der Erklärung allein gelassen hat. Dann soll sie eben dort bleiben, wo sie ist.«
Den Rest des Tages spielten wir Karten. Ich wollte etwas tun, was mich ablenkte von den ständigen Gedanken an meine Mutter. Obwohl ich immer noch nicht viel schlauer war, war das Wichtigste erst mal eine gute Nachricht, die sich bestätigt hatte: Meiner Mutter war es gelungen, der schwarzen Liste zu entgehen. Die schlechte Nachricht war, dass mein Vater sich nach dieser Darstellung als Arschloch herausstellte.
Alles andere sollte eben ein Staatsgeheimnis bleiben.
Ich wollte nicht an meinen Vater und an die Zwillinge denken. Die ganze Zeit war es mir – fast – gelungen, den Gedanken an mein Zuhause auszublenden. Ich fühlte mich nicht mehr wie ich selbst. Ich war eine andere, eine neue. Ich hatte keine Familie mehr.
Und manchmal glaubte ich fast selber daran.
Ich hatte Skrupel, mein Gespräch mit Floria an Ksüs Bruder weiterzugeben. Die Heimlichtuerei der Phee hatte auf mich abgefärbt. Aber schließlich wäre ich ohne ihn und Ksü niemals so weit gekommen. Also erzählte ich, wie es gelaufen war.
»War ja nicht gerade viel«, sagte auch Ivan, als ich fertig war.
Wir saßen zu dritt am Küchentisch, es war warm und gemütlich, und obwohl mein Leben in tausend Scherben zertrümmert worden war, fühlte ich mich merkwürdig leicht, fast schwebend. Das Haar des blonden Mädchens auf dem Quadrum bewegte sich kaum merkbar, wie in einem ganz leichten Luftzug. Es roch nach Kuchen. Irgendein Tier nagte am Holz. Wir konnten es nicht sehen, aber die Geräusche waren so laut, dass wir uns zwischendrin kaum verstehen konnten. Ksü sagte, es sei wahrscheinlich eine der wilderen Ratten, die es sich zwischen zwei Wänden gemütlich gemacht hatte. Die Vorstellung eines Nagers in der Doppelwand machte mich unruhig, ich stellte mir den Geräuschen nach etwas Hundsgroßes vor. Ivan saß bei uns, obwohl er nicht mitspielte. Ab und zu blickte er auf, aber Ksü ließ ihn nicht in ihre Karten schauen, sie sagte, ich könnte als Pheentochter vielleicht noch in seine Gedanken reingucken.
Die Vorstellung hatte einen gewissen Reiz.
Als ich später Ksüs Schlafanzug anzog, die Ärmel und Hosenbeine waren mir etwas kurz, dachte ich wieder an mein Zuhause. Ich sah die Schubladen vor meinem inneren Auge, die Fächer des Kleiderschranks mit den sauberen, gebügelten Kleidern. Ich hätte die Hand ausstrecken und alles, was ich brauchte, mit geschlossenen Augen finden können, aber zwischen meinen Sachen und mir lagen jetzt mehrere Viertel und einige waren auf der Stadtkarte als »unbetretbar« markiert. Mein Vater, meine Großeltern, meine kleinen Geschwister, sie alle waren in dem Teil der Welt geblieben, der nicht mehr der meine war.
Hoffentlich war bei ihnen alles in Ordnung, dachte ich. Hoffentlich verstanden sie, dass mir nichts zugestoßen war, sondern dass es meine eigene Entscheidung gewesen war, nicht zurückzukommen. Hoffentlich unternahm mein Vater nichts, um mich zu finden.
Doch während ich mich in die Decke einkuschelte und mich vom Schlaf davontragen ließ, wusste ich schon, dass meine Hoffnungen sich nicht erfüllen würden. Nichts war in Ordnung. Und mein Vater würde alles auf den Kopf stellen, um mich zurückzuholen.
Ich nehme das Kind vorsichtig hoch, der kleine Körper ist schwer und die Haut feucht vor Schweiß, und setze es zurück auf die Bank, werfe die Decke über seine Schultern, obwohl es hier drin schon ziemlich warm ist. Durch das eine Fenster sehe ich
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