Spiegelkind (German Edition)
meine Mutter. Aber es ist nicht meine Mutter von heute.
Auf der Flucht
Am nächsten Morgen hatte ich wieder verschlafen. Ksü war schon weg. Es war ganz ungewohnt, ausgeschlafen zu sein. Seit ich denken konnte, riss mich der Wecker immer aus den süßesten Träumen, wenn der Morgen hinter der Fensterscheibe noch besonders kalt und grau war. Selbst jetzt fühlte ich mich ein bisschen schuldig, nicht mehr so müde zu sein. Wegen des Lyzeums hatte ich dagegen kein schlechtes Gewissen. Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir ein Lyzeumsabschluss eine glückliche Zukunft ermöglichen würde.
Diesmal zog ich mich erst an und ging dann in die Küche. Aber Ivan war nicht da. Ich machte mir Frühstück und guckte das blond gelockte Mädchen auf der Fensterbank an. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich es wirklich für Kassie gehalten. Aber das Quadrum musste älter sein als Kassie, Ksüs Eltern hatten es schon in ihrem Besitz gehabt, als Ksü noch ein kleines Mädchen war.
Während ich das Quadrum anschaute, musste ich wieder an mein Zimmer zu Hause denken. Ich hatte Sehnsucht nach meinem eigenen Quadrum. Und ich vermisste Jaro und Kassie immer heftiger.
Ein Motorgeräusch riss mich aus meinen Gedanken. Es näherte sich rasch. Es trampelte wild auf der Treppe, ich hörte Ksü meinen Namen rufen und dann stand sie vor mir.
»Juli! Gott sei Dank, dass du da bist!«
»Was ist los?«, fragte ich. Um diese Zeit hatten wir normalerweise Unterricht. Ksü sah ziemlich irre aus. Ihr Gesicht war rot, ihr Atem ging schwer, die Schlange auf dem Schädel sah schuppig aus. Mit heiserer Stimme sagte Ksü: »Dein Vater war in der Schule!«
»Was?«, fragte ich dümmlich, aber ich war nicht erstaunt. Höchstens darüber, dass es nicht schon früher passiert war.
»Er hat nach dir gesucht, also er hat gefragt, wer mit dir befreundet sein könnte, leider war das nur ich und mich kannte er schon und dann …«
»Und dann?«, fragte ich, mein Herz klopfte bis zum Hals.
»Und dann hat er mich zur Seite genommen und mit mir geredet.« Ksü hatte rote Flecken auf den Wangen.
»Hat er dir was getan?«
Sie schwieg.
»Jetzt sag schon, ich kenn ihn doch. Hat er dich bedroht?«
»Ich glaube schon«, flüsterte Ksü. »Er hat gesagt, dass er weiß, dass du nur bei mir sein kannst und dass du sofort nach Hause sollst, sonst wird die Polizei kommen und dich holen und die Siedlung hier dem Erdboden gleichmachen.«
Das hatte ich nicht bedacht: Ich war nicht nur selber eine Verbrecherin, ich hatte auch noch Unschuldige mit reingezogen. Wie naiv war ich eigentlich?
Ich stand auf. »Ich gehe sofort nach Hause.«
»Bitte nicht.« Ksü stellte sich mir in den Weg.
»Ich will euch nicht in Gefahr bringen. Nicht noch mehr.«
»Bleib«, sagte Ksü. »So ein paar Polizisten haben wir doch immer irgendwie rumgekriegt.«
»Das sagst du! Aber was meint Ivan?«
»Das Gleiche«, sagte Ksü fest überzeugt, aber ich glaubte ihr nicht. Ich hatte schon länger das Gefühl, dass meine Anwesenheit Ivan störte. Wenn wir in einem Raum waren, hing eine seltsame Spannung in der Luft. Das konnte nicht nur an meiner eigenen Verlegenheit liegen. Ich war sicher, dass Ivan sich in meiner Nähe unwohl fühlte.
Ich stritt mich mit Ksü, bis wir uns darauf einigten, dass ich erst mal zu Hause anrufen und dann weitersehen sollte. Vielleicht würden sich die Wellen beruhigen, wenn meine Familie meine Stimme hörte, meine Sicherheit spürte, die Überzeugung, dass ich wusste, was ich gerade tat.
Ksü brachte mir das Telefon und ich wählte die Nummer von zu Hause. Ingrid ging dran. Sie krächzte ein Hallo in den Hörer, ich legte erschrocken auf.
»Was ist?« Ksü schaute auf meine Hand, die zitternd auf dem Hörer lag.
»Meine Großmutter«, sagte ich.
»Und? Warum hast du nicht mit ihr gesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf und wählte die Nummer von Papas Büro. Normalerweise ging eine Sekretärin dran, aber jetzt meldete sich mein Vater sofort. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen – wahrscheinlich hatte er auf meinen Anruf gewartet. Oder vielleicht auch nicht: Er nannte ganz offiziell erst den Namen der Firma, dann unseren Nachnamen herrisch und stolz – auf der Arbeit klang er immer so.
»Hier auch«, sagte ich.
Erst schwieg mein Vater. Ich fühlte Ksüs Hand auf meiner Schulter.
»Juliane?«, fragte mein Vater nach einer Weile.
»Ja.«
Noch eine kurze Pause, in der ich dachte, dass er mir jetzt etwas sagen würde, was ich von ihm noch
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