Spiegelkind (German Edition)
Behinderte warb. Dann merkte ich, dass sich ihr riesiger Busen ganz sachte hob und senkte und dass die runden Augen, die mich, ohne zu blinzeln, taxierten, sich auch kaum sichtbar bewegten.
Ich nannte meinen Namen und sagte, ich hätte angerufen.
Sie schaute mich an, ich schaute zurück, sie wartete, ich wartete.
Schließlich sagte sie: »Und?«
Sie gefiel mir nicht. Überhaupt nicht. Sie war dick und hässlich und seltsam angezogen. Ihr Haus gefiel mir auch nicht. Das Zimmer war mit Vorhängen abgedunkelt. An den Wänden hingen Kräuterbündel und gruselige Quadren von schmerzhaft verzerrten Gesichtern. Auf der Kommode brannten mehrere Kerzen und daneben stand ein ausgestopftes Tier, das am ehesten einem Kaninchen ähnelte. Es roch süßlich und faulig.
Wenn sie wirklich eine Phee war – und keine Trittbrettfahrerin, wie es laut Ivan ebenfalls gut möglich war –, wie konnte meine Mutter etwas mit ihr gemeinsam haben?
Da sie immer noch nichts sagte, versuchte ich es erneut.
»Ich bin Juliane Rettemi und ich suche meine Mutter.«
»Und?« Die schmaler gewordenen Augen betrachteten mich feindselig. »Du bist nicht mehr so klein, um nach Mama zu rufen. Du bist kein Küken mehr.«
»Ich hab auch Geld dabei«, sagte ich. »Genau so viel, wie Sie am Telefon gesagt haben. Sogar etwas mehr.«
»Hm?«
Ich steckte die Hand in die Hosentasche und klimperte, genau so, wie ich es mit Ksü geübt hatte. Und während die Augen dieser Frau beim Klang der Münzen aufleuchteten, dachte ich bitter, dass ich jetzt die Feindseligkeit gegenüber Pheen nachvollziehen konnte. Dabei hatte ich mich gerade an den Gedanken gewöhnt, dass man sich nicht schämen musste, eine Phee zu sein. Und jetzt diese Frau, die alle Vorurteile bestätigte. War ich schon wieder zu oberflächlich?
Ich begann zu schwitzen, strich mit der feuchten Hand über meine blauen Haare, auf die ich nach dem Gespräch mit Ivan auch nicht mehr stolz war.
»Gib mir das Buch da«, sagte die Frau und deutete mit dem krummen Zeigefinger hinter meinen Rücken. Ich schaute ihrem gelben, langen und schwarz geränderten Nagel nach, fuhr herum und entdeckte ein dickes Buch im grünen Einband, das auf der Kommode lag.
Ich nahm es in die Hände, erstaunt über die Leichtigkeit und den kratzigen Stoff, der aus der Entfernung wie Samt ausgesehen hatte.
Die Phee schnappte sich das Buch aus meinem Griff, öffnete es auf ihrem Schoß und beugte den Kopf tief darüber. Sie blätterte ziemlich lange darin, dann richtete sie ein Auge auf mich. Das andere hielt sie geschlossen.
»Wie heißt du?«
»Juliane Rettemi«, wiederholte ich, meine Stimme zitterte.
»Das Lyzeum?«
»Woher wissen Sie das?«
Anstatt zu antworten, deutete sie mir, ich solle meinen Arm hochheben. Sie holte etwas aus den Falten ihres Rocks, das sich zu meinem Erstaunen als ein billiger Distanzscanner herausstellte. Er piepste kurz zur Bestätigung, dass meine Nummer eingelesen worden war. Die Phee warf einen kurzen Blick aufs Display und nickte zufrieden.
Dann schaute sie wieder in ihr Buch, bewegte den Zeigefinger über eine aufgeschlagene Seite.
»Juliane Rettemi, fünfzehn Jahre, besucht das Lyzeum, zwei jüngere Geschwister, Vater in der Geschäftsführung von HYDRAGON …«
Ich nickte ununterbrochen wie ein kaputter Roboter.
»Die es geschafft hat, ein von der Polizei abgeschlossenes Zimmer aufzuschließen, und diese alberne private Putzkolonne verjagt hat, die, nebenbei bemerkt, vergeblich versucht, mit den Sonderbrigaden der kommunalen Polizei zu konkurrieren und die nur so jemand wie ihre hochgradig alberne Großmutter Ingrid Rettemi rufen konnte, die ihre letzte gute Idee vor fünfunddreißig Jahren gehabt haben muss …«
»Steht das in Ihrem Buch?«, unterbrach ich sie.
»Du fällst mir viel zu oft ins Wort, Mädchen, bist du etwa doch ein Freak?«
Ich schaute sie misstrauisch an. Warum lächelte sie jetzt?
»Meine Mutter ist Laura«, sagte ich vorsichtig, aber die Phee lachte schon aus vollem Hals, warf die Decke beiseite, rollte auf mich zu und drückte mich, mir den Atem abschnürend, an ihre ausladende Brust.
Die Gesetze der Pheen
Wenig später saß ich im Nebenzimmer und schaute zu, wie die Frau die hässlichen Nägel von ihren Fingern streifte – sie waren aus kunstvoll gefärbtem Plastik. Vorher hatte sie sich aus dem Bademantel geschält und an einem kleinen Waschbecken die graue Maske vom Gesicht gewaschen. Jetzt stand vor mir eine kräftige, viel jünger wirkende Frau
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