Spiegelkind (German Edition)
im langen dunklen Kleid. Sie schenkte mir einen duftenden Tee ein. Ich musste grinsen: Professor Melchior dürfte mich um mein Glück beneiden, einen garantiert echten Pheentee zu trinken.
»Wozu dieser ganze Karneval?«, fragte ich. Floria starrte mich an, streckte ihre Hand aus und berührte mich ständig, fuhr mit den Fingern durch meine blauen Fransen, streichelte meine Wange, als könne sie nicht glauben, dass ich wirklich leibhaftig vor ihr saß. Ich war auf so viel Überschwang nicht vorbereitet gewesen.
»Die Verkleidung ist für die Kunden«, sagte Floria, meine Hand zwischen ihren glühend heißen Fingern. »Sie wollen es so haben. Ich bin da ganz Dienstleister.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Du siehst so viel netter aus. Harmloser, unauffälliger.«
»Wer hierherkommt, der will eine Phee sehen. Nichts Harmloses und Unauffälliges. Er will seine schlimmsten Albträume bestätigt sehen. Eine Verkörperung der kollektiven Ängste. Dann trauen sie einem alles zu, vor allem die richtigen Prognosen. Würde ich in meiner Alltagskleidung praktizieren, säßen alle Normalen bei den hochgradig verkleideten Freakluschen, die sich als Pheen ausgeben, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.«
»Meine Mutter hätte sich nie so herausgeputzt.«
»Bist du sicher?« Floria zwinkerte mir zu.
Ich erstarrte. War ich mir sicher? Musste meine Mutter jetzt auch so leben? Und wennschon? Würde mir das noch etwas ausmachen, nach allem, was ich inzwischen wusste? War es mir immer noch so wichtig, wer was trug?
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte ich trotzdem, aus purem Trotz. Und wechselte sofort das Thema. »Kommen viele Normale zu dir?«
»Ach, es kommen alle. Normale, Abnorme, was da draußen so rumläuft. Alle wollen sie ihre Zukunft vorhergesagt bekommen. Aber bitte nicht allzu genau.«
»Und du sagst sie ihnen?«
»Um Gottes willen!« Floria lachte. »Da muss man höllisch aufpassen. Ich will ja, dass sie mich weiterempfehlen.«
»Na gut.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann sag mir, wie es um mich steht.«
»Um dich?« Sie hörte auf zu lachen, schaute mich aufmerksam an, berührte meine Wange.
»Kannst du sehen, wer ich bin?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Bist du eine Wahrsagerin oder nicht? Wie ist meine Zukunft? Was wird passieren?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Bist du eine Betrügerin?« Ich fühlte auf einmal die Enge und Stickigkeit dieses kleinen Raums, in dem so viele Menschen ihre Sorgen und Ängste abgeladen hatten.
»Ich betrüge nicht«, sagte Floria ruhig.
»Sondern?«
»Du machst denselben Fehler wie alle anderen, die hierherkommen. Sie denken, ihr Leben ist eine Autobahn und die Strecke steht fest. Es will ihnen nicht in den Sinn, dass ich zwar das Unsichtbare sehen kann, vielleicht nicht sehr gut, andere können es durchaus besser. Aber es gibt keine Zukunft. Jeder entscheidet in jedem einzelnen Augenblick, welchen von vielen möglichen Wegen er einschlägt. Mit jedem einzelnen Atemzug formt man seine Zukunft und woher soll ich wissen, was du als Nächstes tun wirst, wenn du es selber nicht weißt?«
»Und was erzählst du dann deinen Kunden? Denkst du dir einfach irgendwas aus?«
»Wieso ausdenken? Ich sehe viel. Ich sehe ihre Ängste. Ich sehe ihre Krankheiten. Ich weiß, wo sie stehen und was sie quält. Und das sage ich ihnen – nicht alles, nur so viel, wie sie gerade verkraften können.«
»Und ich? Was siehst du bei mir?«
Floria warf mir einen merkwürdigen Blick zu, als würde sie nicht direkt auf mich schauen, sondern knapp neben mich.
»Viel Kummer«, sagte sie.
»Haha. Was du nicht sagst.«
»Wie eine lilafarbene Wolke. Und ich sehe Gold. Eine Kapsel, die dich umschließt. Sie leuchtet, ich kann kaum etwas erkennen. Da ist eine Schlange zu deinen Füßen. Ein kleiner Vogel, der versucht, dich in die Wange zu picken, aber er kommt nicht durch die Kapsel.«
»Ich verstehe kein Wort, Floria. Ich muss es aber wissen. Wer bin ich?«
»Ich sehe kaum was, Mädchen. Die Goldkapsel um dich ist zu dicht und sie blendet mich, je länger ich hinschaue.«
»Das klingt aber hübsch«, sagte ich spöttisch. Aber Floria achtete nicht auf meine überdeutliche Enttäuschung.
»Es ist alles deine Mutter«, flüsterte sie. »Das hat sie gemacht. Du sollst nicht durchschaut werden. Du sollst nicht verletzt werden.«
»Du kannst bei mir weniger sehen als bei anderen?«
Floria blickte mich aus aufgerissenen Augen direkt an.
»Deine
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