Spiel der Finsternis: Der Bund der Schattengänger 10 - Roman (German Edition)
worden, dass Whitney der Meinung gewesen war, sie würde ohnehin sterben, und daher hatte er sich ihrer schließlich entledigt – sie an einer der schlimmsten Straßen im Rotlichtviertel, wo Menschenhändler einem ihre Sklaven aufdrängten, in eine dunkle Gasse werfen lassen.
Sam wusste zu viel. Er wusste, wer sie war. Wenn sie Whitneys Stimme durch ihren Körper hallen hören konnte, dann konnte auch er sie hören. Sie hatte ihm ihr Inneres geöffnet, und er kam bis in die grausigsten Details an ihre Erinnerungen heran. Sie schluckte schwer, und ihre Haut überzog sich mit Schweißperlen. Als sie sämtliche Risiken eingeschätzt hatte, die es für sie mit sich brachte, sich auf das Gelände der Schattengänger zu begeben, war sie nicht ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen, jemand würde in ihr Inneres gelangen und dort die Schande ihrer Kindheit entdecken, diese entsetzlichen Jahre der Quälerei und der Verwundbarkeit.
»Du wirst ihm mehr geben müssen. Sonst verliere ich ihn.« Diesmal war Verzweiflung aus Lilys Stimme herauszuhören.
»Er dreht den Kopf, Lily, damit er sie …« Die Stimme verklang.
Als Thorn aufblickte, sahen sowohl Lily als auch der andere Mann in ihre Richtung, da Sam selbst in seinem nahezu bewusstlosen Zustand langsam seinen Kopf drehte und sie seiner Blickrichtung folgten. Sie wussten, dass er sie ansah. Um sie vor ihr zu warnen? Das würden sie wahrscheinlich denken, aber in Wirklichkeit versuchte er, Kontakt zu ihr aufzunehmen, um ihr zu helfen. Er war genauso selbstlos, wie ihr Vater es gewesen war.
Mamoru Yoshiie tauchte aus der Dunkelheit auf, ein kleiner, beinah schmächtiger Mann in einem grauen Kimono und einer Hose mit weiten Hosenbeinen, Zehensocken und Sandalen. Hinter ihm folgten zwei kleine Jungen, der eine dreizehn, der andere zehn.
Yoshiie hatte über ihr gestanden und mit einem Kopfschütteln die kleine Gruppe von zwielichtigen Schlägertypen angeschaut, die sich in der Nähe zusammendrängte, um zu sehen, was er mit ihr tun würde. Später hatte sie erfahren, dass es sich bei den Gangstern um Angehörige der gefürchteten Yakuza handelte, die in diesem Teil der Stadt für das Sexgewerbe und den Drogenhandel zuständig waren. Sie verbeugten sich leicht vor Yoshiie und wichen langsam zurück, als er sich bückte, um das Mädchen hochzuheben.
Thorn hatte solche Angst gehabt. Sie war winzig und wog für den älteren Mann nicht mehr als eine Feder. Er sah ihr fest in die Augen, und Frieden senkte sich herab. Dieses Gefühl hatte sie nie wieder bei jemandem gehabt – bis sie Sam begegnet war.
Sie schloss die Augen. Sie sollte Sam loslassen. Sie sollte froh sein, dass ihm das Bewusstsein entglitt. In ihrem Brustkorb hämmerte ihr Herz. Die Narben brannten wie Feuer. Das kleine Mädchen wollte einfach nicht aufhören zu schreien. Sogar ihre Fingernägel taten weh, denn bei ihrem Versuch, aus der kleinen Kiste herauszukommen, in die sie sie auf der Rückreise nach Japan gestopft hatten, waren sie tief eingerissen.
Sie zwang sich zu atmen. Sie konnte Sam nicht sterben lassen, noch nicht einmal, um ihr eigenes Leben zu retten. Es konnte durchaus sein, dass sie keine Chance haben würde, aber Sam Johnson musste weiterleben, denn ohne ihn wäre die Welt deutlich ärmer. Sie schloss sich Dr. Whitneys Einschätzung, dass er nichts wert war, nicht an. Sie würde ihn nicht wegwerfen, nicht nachdem sie in seinem Inneren gewesen war und wusste, dass er alles Gold auf Erden wert war. Ihr Vater hätte ihn niemals weggeworfen. Ebenso, wie er Daiki und Eiji und seine geliebte Tochter Azami gerettet hatte, hätte er auch Sam aus jeder Gefahr herausgeholt und ihn so großgezogen, dass er wusste, wie er auf sich selbst aufpasste.
Tu es nicht, Sam. Nicht für mich. Es ist lange her. Lass dich von ihnen behandeln. Schlaf einfach ein.
Ich kann solchen Schmerz in dir fühlen.
Sie holte Luft und ließ tief in ihr Inneres Ruhe einkehren.
Seine Stimme überflutete sie und brachte ihr Wärme, doch sie fühlte diese entsetzliche Einsamkeit, die in seinem Tonfall widerhallte. Leider wusste sie, wie ihm zumute war. Er war in ihr gewesen, all diese Glut und Kraft, und als er fort war, war ihr bewusst geworden, wie allein sie viel zu viele Jahre lang gewesen war. Sie wusste nicht, wie es jemals möglich sein würde, ihn in ihr Leben zu integrieren – nicht, wenn ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zu beenden, was sie in Angriff genommen hatte –, aber wenn er am Leben blieb, bestand
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