Spiel der Finsternis: Der Bund der Schattengänger 10 - Roman (German Edition)
einfach abartig vor, und dieses Gefühl hat sich jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe war, verstärkt. Ich glaube, ich habe instinktiv jedes Talent vor ihm verborgen, und er konnte keines entdecken. Das muss ihn wahnsinnig gemacht haben, weil er sich stolz zugute gehalten hat, dass er weiß, wer übersinnliche Gaben besitzt und wer nicht.«
»Und dabei warst du noch ein kleines Kind.« Er streckte seine Arme aus und richtete sich auf, um sie auf seinen Schoß zu ziehen, und ein brennender Schmerz raubte ihm den Atem und erinnerte ihn daran, dass er nicht hundertprozentig in Ordnung war. Er atmete gegen den Schmerz an und schmiegte Azami an sich, weil er ebenso sehr das Kind wie die Frau trösten wollte.
»Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, wenn er mich berührt hat. Ich wusste, dass er keine von uns lieb hatte und uns auch nie lieben würde. Ich habe meine Gaben instinktiv verborgen, und später, als er meinen Körper für Experimente benutzt hat, dachte ich, das sei es, was er von mir wollte. Wahrscheinlich war ich ständig fast verrückt vor Angst. Ein Kind denkt nicht so, wie Erwachsene denken.«
»Du gibst dir doch gewiss nicht die Schuld an den Dingen, die Whitney dir angetan hat«, sagte er mit seinen Lippen auf ihrem Haar. Er konnte keine weißen Haare entdecken, aber wahrscheinlich hatte sie ihr Haar direkt vor dem Besuch des Geländes gefärbt, und daher würde niemand weiße Haaransätze sehen können.
Azami drehte ihren Kopf und sah ihn an. »Ich war ein Kind. Natürlich habe ich mir die Schuld daran gegeben. Er war so kalt mir gegenüber. Ich konnte ihm nicht ein einziges Mal ein Lächeln entlocken wie manche der anderen Mädchen. Ich habe mich immer unnütz gefühlt. Es war beinah eine Erleichterung, für Experimente benutzt zu werden, weil er mir dann wenigstens gesagt hat, ich machte mich nützlich. Das war ein Teil seiner Brillanz – uns Liebe und Anerkennung vorzuenthalten, damit wir alles getan hätten, um uns bei ihm einzuschmeicheln. Ein Teil von mir wusste, dass er vollständig verrückt war, aber das Kind wollte einfach nur seine Liebe und seine Anerkennung.«
Wieder loderte diese gewaltige Wut in Sam auf. Sie brauste glühend heiß und strahlend hell durch sein Inneres und erschütterte ihn mit ihrer barbarischen Intensität. Er war ein denkender Mensch, kein urzeitlicher Krieger, aber wie Letzterer kam er sich in dem Moment vor. Er musste Whitney töten, ihn vom Angesicht der Erde tilgen und ihn aus Azamis Erinnerungen löschen. Wie konnte ein erwachsener Mann ein Kleinkind derart traumatisieren, dass dessen Haar weiß wurde, obwohl es von Natur aus schwarz war?
In seiner Hilflosigkeit hauchte er einen zarten Kuss auf ihr Haar, denn er konnte nur versuchen, ihr stummen Trost zu spenden. Er konnte sich kaum ausmalen, was ihr Vater in dieser dunklen Gasse gefunden hatte. Ein abgerissenes, schwaches Kind mit weißem Schopf, das ansonsten nur noch aus Haut und Knochen bestand.
»Ich habe Lily und Ryland mit ihrem Sohn beobachtet, und wie die beiden ihn behandeln, ist so anders, das genaue Gegenteil«, sagte Azami. »Er ist ein glücklicher Junge. Ich kann die Liebe fühlen, die sie ihm entgegenbringen, und wie er darauf reagiert.«
Natürlich würde ihr das wichtig sein. Er hätte wissen müssen, dass sie die Verfassung eines Kleinkinds, das Whitneys Tochter in ihrer Obhut hatte, genauestens überprüfen würde.
»Wir sichern das Anwesen so gründlich, damit keine Gefahr besteht, dass Whitney eines der Kinder in seine Finger kriegt. Er hat es schon versucht, und wir wissen, dass er es wieder versuchen wird.«
»Er wird nicht aufgeben«, sagte Azami. Sie wandte sich von ihm ab. »Sam, du weißt, dass es mit uns nicht klappen kann. Ich denke ständig darüber nach, und es gibt viel zu viele Komplikationen. Ich habe eine Firma und meine Brüder, und du hast dein Team und deine Familie.«
»Das lässt sich mit Logistik lösen, Azami, und das weißt du selbst«, sagte er. »Wenn wir es wollen, werden wir eine Möglichkeit finden. Es gibt immer eine Möglichkeit. Du hast Angst, und dabei geht es nicht um mein Team oder darum, was ich tue. Es geht noch nicht einmal um mich.«
Sie glitt von seinem Schoß auf den Boden, so anmutig wie Wasser, das über Steine fließt. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das leiseste Rascheln, und das erinnerte ihn wieder daran, was sich hinter diesem schönen Äußeren verbarg: eine tödliche Waffe. Sie brauchte keine Schusswaffen und auch nicht Pfeil und
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