Spiel Der Sehnsucht
ein wohlüberlegtes Kompliment«, gab sie atemlos zurück. »Zweifellos fühlen sich alle jungen Damen davon sehr geschmeichelt.« Und das traf auch auf sie zu, gestand sie sich ein, obwohl sie es besser wissen sollte.
Ivans Lippen verzogen sich zu einem kleinen, unverschämten Lächeln, und Lucys Magen zog sich zusammen.« Ich finden«, erwiderte Ivan, »daß man aus dem Tanz einer jungfräulichen Dame sehr gut auf ihre - wie soll ich mich ausdrücken? - auf ihre Fähigkeit zur Leidenschaft schließen kann.«
Lucy geriet aus dem Takt, doch Ivan hielt sie und führ-te sie sicher. Schockiert und verärgert blickte sie zu ihm auf. Leidenschaft? Für diese Frechheit gab es keine passenden Worte.
»Kommen Sie«, fuhr Ivan hinterlistig fort, »wir wissen doch beide, daß Sie ein ganz besonderes Interesse für die Leidenschaften anderer hegen. Sagen Sie die Wahrheit, Lucy. Haben Sie nicht schon manchen Mann nach seinem Können auf dem Tanzboden eingeschätzt? Ein Klotz auf zwei Beinen wird sicher auch im Ehebett nicht viel Fi-nesse an den Tag legen.«
»Also wirklich!« Lucy hielt es nicht länger aus und entwand sich seinem Arm. Auf ihre zornige Geste hin endete die Musik mißtönend. Lady Westcott beugte sich kritisch vor, während Valerie sich am liebsten hinter dem Klavier verkrochen hätte. »Ich glaube, es wird Zeit, uns zurückzuziehen«, sagte Lucy in dem hochmütigsten Ton, den sie zustandebrachte.
»Valerie?«
Würde er sich nun entschuldigen? Anscheinend nicht.
Valerie, verschreckt durch die Emotionen um sie herum, die deutlich zu spüren waren, erhob sich zitternd.
Auch Lady Westcott stand unter Zuhilfenahme ihres Stockes auf. »Was geht hier vor sich?« fragte sie mißbilligend. »Wie? Weshalb gehen Sie, Miss Drysdale? Hast du sie beleidigt, John?«
John? Trotz ihrer Erregung entging Lucy weder der wütende Blick, den Ivan der alten Frau zuwarf, als diese ihn John nannte, noch deren widerstrebendes Einlenken.
»Na gut, dann eben Ivan! Was hast du zu ihr gesagt, Ivan?«
Innerhalb eines Augenblicks hatte Ivans Laune sich vom Spott zur Wut gewandelt, und das nur, weil seine Großmutter ihn John genannt hatte. Was hatte das zu bedeuten?
Dann fiel es Lucy ein, daß John die englische Form des Namens Ivan war. Vor ihren Augen entstand das Bild eines kleinen, dunkelhaarigen Zigeunerjungen, der alles aufgeben mußte, was er gekannt hatte, um ein richtiger englischer Lord zu werden. Und doch hatte er an seinem Namen - seinem wahren Namen - festgehalten.
Ihr Herz war bereit, ihm zu vergeben - bis Ivan sich wieder ihr zuwandte.
»Mir scheint, ich habe eine Bemerkung gemacht, die Miss Drysdales Empfindsamkeit berührt hat. Ich hatte sie für weltoffener gehalten, als sie ist. Dafür entschuldige ich mich.«
Daß Ivan sich mit diesen Worten keineswegs für seine Frechheit entschuldigte, entging Lucy nicht. Ihr Ärger regte sich wieder. Daß er ein unglückliches Kind gewesen war, konnte kein Freibrief dafür sein, sich als Mann unmöglich zu benehmen.
Lady Westcott stieß ungeduldig ihren Stock auf den Boden. »Nun, Miss Drysdale? Nehmen Sie seine Entschuldigung an? Ich werde keine Zwistigkeiten in diesem Hause dulden.«
Außer, wenn du sie selbst verursachst, dachte Lucy verstimmt. Trotzdem wollte sie ihren Aufenthalt in London nicht aufs Spiel setzen. Sie war noch nicht einmal eine Woche hier. Wenn Ivan Thornton glaubte, sie so weit aus der Fassung bringen zu können, daß sie die arme Valerie allein ließe, so hatte er sich getäuscht. Sie würde in London bleiben, so lange es irgend möglich war. Sie wollte Sir James' Vorlesungen besuchen. Sie hatte sich Hunderte, nein, Tausende anregende Gespräche vorgestellt, die sie mit ihm führen wollte.
Die schlechten Manieren eines einzigen Mannes sollten sie davon nicht abhalten.
»Entschuldigung angenommen«, erwiderte sie frostig und mit steifer Haltung. »Aber es ist spät, und ich bin müde.«
»Kommen Sie, Valerie, wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«
Valerie huschte an Lucys Seite, wobei ihr Gesicht deutlich ihre Angst vor jeder Disharmonie ausdrückte. Lady Westcott hatte gesagt, daß Valerie sehr fügsam wäre. Das rührte gewiß daher, daß sie ein mittleres Kind war und zu oft zwischen ihren streitenden Geschwistern gestanden hatte. Sicher würde sie nahezu alles tun, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen.
Ivan dagegen war ein Einzelkind gewesen und einsam dazu. Da stand er nun, die Hände nachlässig in die Taschen geschoben
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