Spiel der Teufel
mit ihnen nach
Hause fahren. Bis heute weiß niemand, wie sie versucht hat,
nach Hause zu kommen.
Als ihre Eltern am nächsten Morgen das unberührte Bett sahen
und nachdem sie bei allen angerufen hatten, mit denen Carmen
unterwegs gewesen war, doch keiner sagen konnte, mit wem
sie nach Hause gefahren war, wurde die Polizei eingeschaltet.
Doch zu diesem Zeitpunkt war bereits ein anonymer Anruf bei
der Dienststelle eingegangen. Ein Mann sagte, eine Tote liege in
einem Waldstück in der Nähe des Schlosses Gottorf.
Aber Carmen war nicht tot, sie lebte, auch wenn ihre Vitalfunktionen
auf ein Minimum reduziert waren. Und nicht lange
danach sagten die Ärzte, dass sie für immer ein Pflegefall sein
werde. Hätte man jedoch spätestens eine Stunde nach dem Verbrechen
einen Arzt kontaktiert, sie hätte vermutlich keine bleibenden
Schäden davongetragen.
Carmen war fast vierzig Jahre alt und noch immer eine sehr
schöne Frau, auch wenn ihr Gesicht einer Maske glich. Und es
gab keinen Menschen, den Lisa mehr liebte als sie. Manchmal
fragte sie sich, ob es richtig war, so zu fühlen, denn es gab noch
mehr Personen in ihrem Umfeld, ihre Eltern, Sören Henning,
für den sie eine tiefe Zuneigung empfand, aber Carmen war
ihre Schwester, und da war ein Band zwischen ihnen, das niemals
durchtrennt werden konnte. Gestern hätte sie eigentlich
zu ihr gewollt, um sich zwei oder drei Stunden bei ihr aufzuhalten,
mit ihr zu sprechen, auch wenn es wieder ein einseitiges
Gespräch geworden wäre, doch Carmen war die Einzige, der
sie alles, was sie bewegte und berührte, erzählen konnte. Vielleicht
schaffe ich es heute Abend, dachte sie, während ihr Blick
noch immer auf die Straße gerichtet war.
»An was denkst du?«, wurde sie in ihren Gedanken unterbrochen
und zuckte erschrocken zusammen, denn sie hatte Henning,
der in seinem Sessel saß, die Füße auf den Schreibtisch
gelegt, völlig vergessen.
»Nichts weiter«, antwortete Santos und drehte sich um.
»Wann fährst du wieder zu Carmen?«
»Du kannst wohl Gedanken lesen. Heute Abend, wenn ich es
schaffe.«
»Sie wird auch mal ohne dich auskommen ...«
»He, ich dachte, wir wären mit diesem Thema durch«, zischte
Santos. »Carmen ...«
»Carmen ist deine Schwester, doch dein Leben voll und ganz
nach ihr auszurichten ist verkehrt. Du vergisst darüber dich
selbst, aber das hab ich dir schon oft genug gesagt. Sie wird
nicht wieder aufwachen und so sein wie früher.«
»Das ist mein Problem.«
»Wie du meinst. Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns die
Dienstpläne ansehen«, sagte Henning und stellte den leeren
Becher auf den Tisch, stand auf, streckte sich und fuhr fort:
»Entschuldige, aber ich werde das wohl nie begreifen.«
»Was?«
»Das zwischen dir und Carmen. Ich denke nur, sie genießt die
bestmögliche Betreuung, nicht nur im Heim, sondern auch von
deinen Eltern und von dir. Mir kommt es immer so vor, als
würde Carmen an erster Stelle stehen und danach ...«
»Und danach?«, fragte sie mit einem Blick, der wie ein Geschoss
war.
»Vergiss es. Komm, sonst arbeiten wir wieder bis in die Nacht
hinein. Und du willst ja schließlich noch nach Schleswig.«
»Gut erkannt«, entgegnete sie. »Und damit du's nicht vergisst,
Carmen kommt tatsächlich an erster Stelle, aber das bedeutet
nicht, dass ich andere darüber vergesse.«
»Andere vielleicht nicht, aber dich vergisst du viel zu oft.«
»Lass uns gehen«, sagte Santos nur und konnte die Tränen
kaum unterdrücken, weil Henning einen Nerv getroffen hatte,
und das nicht zum ersten Mal. Er hatte recht, aber sie war unfähig,
dies auch einzugestehen. Carmen würde ein Pflegefall
bleiben, ob sie dreimal in der Woche zu ihr fuhr oder nicht,
aber die Zeiten, in denen sie bei ihr war, waren für sie auch
entspannend. Wenn sie ihr die Haare machte, sie schminkte, ihr
Geschichten erzählte, die ihr keiner sonst erzählen konnte und
die sie auch niemand anderem erzählen würde, nicht einmal
Sören. Geschichten, die nur sie betrafen, ihre Gefühle, ihre Gedanken.
Carmen war eine geduldige Zuhörerin, und das allein
zählte. Sören würde das nie verstehen.
MITTWOCH, 7.15 UHR
Lennart Loose hatte eine mehr als unruhige Nacht hinter sich,
als er aufstand und sich zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit
wie gerädert fühlte. Als säße er in einem sich immer schneller
drehenden Karussell. Er setzte sich wieder auf die Bettkante,
den Kopf in den Händen
Weitere Kostenlose Bücher