Spiel mir das Lied vom Glück
an.«
»Gut«, murmelte ich. Das wäre mir nur recht.
»Was hast du gesagt?«, fuhr meine Mutter mich an. »Willst du wieder frech werden?«
»Nein, Mama«, versicherte ich ihr schnell. Ich bekam wieder Kopfschmerzen, als würden tausend Nadeln in meinen Kopf geschoben. »Nein Mama, ich bin nicht frech.«
»Die Polizei hat ihn gesucht, wegen dir, Julia, und jetzt hab ich keinen Typen mehr. Was hast du dazu zu sagen?«
Ich schaute meine Mutter nur an. In einem engen rosa Kleid saß sie stark geschminkt auf der anderen Seite des Raumes. Das platinblonde Haar war auf ihrem Kopf aufgetürmt. Zu der Zeit arbeitete sie als Tänzerin in einer Bar, wo sie auch ihren letzten Fiesling kennengelernt hatte.
»Los, was hast du dazu zu sagen? Ich sorg dafür, dass du ein Dach über dem Kopf hast, Klamotten, was zu essen … « So ging es immer weiter. Sie zählte auf, was sie mir angeblich alles bot. Mein Genick schmerzte, und mein Kopf pochte wie ein Vorschlaghammer. Ich wollte nicht mit ihr diskutieren.
Hätte ich die Kraft gehabt, hätte ich sie darauf hingewiesen, dass die Frauen aus der Gemeinde mir die Sachen ihrer Kinder gegeben hatten, darunter einen nagelneuen Mantel, für den alle zusammengelegt hatten, und dass ich in der Schule umsonst frühstücken und zu Mittag essen durfte. Oft bekam ich bei den Nachbarn, denen ich leidtat, mein Abendessen. Der eine war schwul und transsexuell und wollte Ballerina werden. Er hatte viele Freunde aus der Kunstszene, die immer nett zu mir waren. Tagsüber war er Mechaniker, nachts lief er wie eine Frau herum. Der Transsexuelle machte einen super Hackbraten, herrliche Spaghetti mit Fleischklöpsen und Couscous.
»Hörst du? Ich rede mit dir, Julia! Deine vorlaute Klappe ist schuld, dass ich wieder meinen Typen verloren habe. Also, was hast du deiner Mama zu sagen?«
»Ich würde sagen, es ist Zeit für Sie zu gehen, Miss Nudley«, sagte eine der Krankenschwestern, die den Rest der Schimpftirade meiner Mutter mitbekommen hatte. Groß und aufrecht stand sie neben meinem Bett. Sie hatte graues Haar und ein junges, gerötetes Gesicht. Selbst ich als Kind konnte sehen, dass sie meine Mutter verabscheute.
»Sie haben mir gar nichts zu sagen!«, protestierte meine Mutter und musterte die Krankenschwester von oben bis unten.
Dieser Blick, den sie bis zur Vollendung beherrschte, sollte ihrem Gegenüber zeigen, wie hässlich und wertlos es war.
Er ließ die Schwester völlig kalt. »Es mag Ihnen nicht klar sein, Ms. Nudley, aber Ihre Tochter hat schwere Verletzungen erlitten, als sie von Ihrem Freund durch das Zimmer geschleudert wurde. Sie hat eine Gehirnerschütterung, Blutergüsse … «
»Oh, bitte«, unterbrach meine Mutter sie. »Das hat mir der Arzt alles schon erzählt. Die kommt schon klar. Und ich gehe, wann ich will.«
»Nein, Ma’am«, sagte die Krankenschwester. »Sie – gehen – jetzt!«
Da schlug ich die Augen auf.
»Du fette Kuh!«, giftete meine Mutter. »Das hier ist meine Tochter, und du hast mir überhaupt nichts zu sagen! Los, raus aus dem Zimmer! Raus hier, aber dalli!« Meine Mutter kniff die Augen zusammen und versuchte, die Stimme der Krankenschwester nachzuahmen.
Die Krankenschwester bückte sich und drückte auf einen Knopf in der Nähe meines Bettes, ohne meine Mutter aus den Augen zu lassen. Es dauert nur Sekunden, dann eilten Schritte über den Flur, und drei Männer kamen herein.
Einer von ihnen, jung und gutaussehend, sah zu der Krankenschwester hinüber. »Was ist, Nora?«, fragte er mit freundlicher Stimme und noch freundlicherem Blick.
»Ms. Nudley nutzt unsere Gastfreundschaft ein wenig zu lange aus, denke ich«, erwiderte sie ruhig, doch hörte ich das Stahlharte in ihrer Stimme. »Sie schimpft mit ihrer Tochter, weil die Polizei ihren Freund sucht, einen Mann namens Trayce.« Sie sprach den Namen aus, als sei er Abschaum. »Er hat unsere kleine Patientin Julia nämlich quer durchs Zimmer geschleudert, wobei sie schwer an Kopf und Oberkörper verletzt wurde. Ms. Nudley schimpft mit ihrer Tochter, weil sie ›ihren Typen‹ jetzt los ist.«
Meine Mutter wurde puterrot vor Wut. Ich hätte am liebsten geheult. Wenn Mama sauer wurde, ließ sie es an mir aus. Hier, zu Hause oder anderswo, irgendwie war es immer meine Schuld.
Meine Mutter holte tief Luft, stand auf, glättete ihr Kleid und schob ihre große Brust vor. Sie machte einige Schritte auf den jungen Arzt und die anderen beiden Männer zu, die ebenfalls Ärzte waren, wie ich
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