Spiel mir das Lied vom Glück
«
»Julia, solche Sachen sind mir völlig gleichgültig, absolut.«
»Aber mir nicht. Du bist immer so … so stark. Du bist klug und offenbar unglaublich erfolgreich in deinem Beruf. Ich dagegen, ich bin ein Wrack, wirklich, Dean.« Ich konnte ihm nicht ansatzweise erklären, wie kaputt ich war. Wie auch? Wie sollte ich ihm beibringen, dass ich eine Angstkrankheit hatte und wahrscheinlich in nur wenigen Monaten tot sein würde?
»Ich bin nicht so belesen wie du, ich lebe in einer ganz anderen Welt. Ich habe eine völlig andere Vergangenheit als du, und ich fühle mich nicht rund, falls du verstehst, was ich damit meine. Ich bin kaputt, mein Leben ist kaputt. Ich bin mit dir nicht auf gleicher Augenhöhe. Ich muss mich erst selbst finden, bevor ich mich mit irgendjemandem einlassen kann. Kannst du das ein ganz klein bisschen verstehen?«
Dean Garrett sah mich lange und eindringlich an. »Ich denke, du willst mir sagen, dass du dich gerade von deinem Verlobten getrennt hast, der sich als besessen, gefährlich und gewalttätig entpuppt hat, und dass du immer noch daran zu knabbern hast und Zeit brauchst, um wieder zu dir zu kommen. Außerdem möchtest du an einen Ort, wo du sicher und geregelt leben kannst, bevor du dich mit mir oder einem anderen einlässt.«
Ich staunte. Ich hatte nicht gewusst, dass es auf dieser Welt Männer wie Dean gab. »Ja, so ist es. Ich will unabhängig sein, ich muss zu mir selbst finden, ich will herausfinden, was ich machen will, ich will mir eine Arbeit besorgen … Es tut mir so leid, Dean. Ich habe so ein Verlangen nach dir, dass ich das Gefühl habe, jeden Augenblick zu platzen, aber es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Ich würde es kaputt machen. Ich würde alles zerstören. Und das könnte ich im Moment nicht ertragen.«
Dean nickte. »Das verstehe ich. Wirklich, Julia.« Er küsste mich auf die Stirn, nahm mein Gesicht in die Hände und drückte mir zwei Küsse auf die Wangen und dann einen zärtlichen, warmen Kuss auf die Lippen, der einfach nicht aufhören wollte. Ich spürte, wie all meine guten Vorsätze dahinschwanden.
»Julia!« Er hob mein Kinn an und wartete, bis ich die Augen öffnete. »Ich werde dich zu nichts drängen. Aber ich werde auch nicht ewig warten.«
Ich nickte.
»Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens allein zu sein«, sagte er mit ruhiger, tiefer Stimme. »Ich weiß, dass du Angst hast, aber ich verspreche dir, dass ich dir niemals, nie im Leben wehtun werde.«
Ich nickte wieder und fragte mich insgeheim, ob ich nicht gerade den größten, verheerendsten, folgenreichsten Fehler meines Lebens machte, indem ich nicht mit Dean ins Haus ging und darauf bestand, die nächsten drei Tage im Bett zu verbringen.
Nein. Ich wusste, dass ich recht hatte. Ich war zu verkorkst, um mit irgendjemandem etwas anzufangen. Auch das ist das Dumme am Älterwerden: Man schlägt nicht mehr alle Vorsicht in den Wind, denn man weiß, dass der Wind sich drehen und einem so heftig ins Gesicht blasen kann, dass man auf dem Hintern landet und jahrelang nicht mehr hochkommt.
Ich legte die Hände auf Deans Brust und holte tief Luft. Es würde sich dumm anhören, aber da das nicht ungewöhnlich bei mir war, wollte ich ihm diese Frage trotzdem stellen: »Ich verstehe nicht … «
»Was?«
Wie um alles in der Welt sollte ich das jetzt sagen, ohne mich lächerlich bedürftig und gierig nach Komplimenten anzuhören? »Ich verstehe nicht, warum jemand wie du sich überhaupt für jemanden wie mich interessiert.«
So. Da war es heraus. Die Stille war ohrenbetäubend.
Dean nahm mein Gesicht in die Hände. »Schau mich an, Julia!«
Ich gehorchte.
»Du bist der erste Mensch in meinem Leben, mit dem ich wirklich reden kann. Ich bin dir näher, als du dir vorstellen kannst. Du bist stark, Julia, aber du weißt deine Stärke nicht gebührend zu schätzen. Stimmt, du trägst Zeitungen aus, aber das ist für mich eine Stärke. Du wolltest Geld verdienen, konntest hier keine ordentliche Arbeit finden und hast deshalb
genommen, was du kriegen konntest. Ohne dich zu beschweren. Dann hast du dir noch eine zweite Arbeit gesucht, die, wie ich höre, sehr erfolgreich laufen soll. Deine Lesestunden sind gerammelt voll. Die Kinder lieben dich, die Eltern lieben dich.
Du hilfst deiner Tante jeden Tag viele Stunden, und mehrere Frauen in dieser Stadt bezeichnen dich bereits als ihre Freundin. Du unterstützt Lydia bei ihrer Mission, den Menschen in dieser Stadt zu helfen, die Probleme
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