Spiel mir das Lied vom Glück
doch nur Hass auf uns wartete?
Warum hatte ich so oft zugelassen, dass Robert mir ins Gesicht schlug? Ein Leben ohne Gewalt ist deutlich schöner.
»Ich bin sauer, weil ich ihm gestattet habe, mir das anzutun«, sagte Katie. »Früher war ich glücklich. Früher hatte ich Energie. Man konnte Spaß mit mir haben. Ich habe viel gelacht, Julia. Heute nicht mehr. Und ich weiß, woran das liegt.«
Ein großer Holztransporter fuhr an uns vorbei.
Katie ließ den Motor ihres alten Wagens an und sah nach links und rechts. Keine anderen Autos.
Wir kehrten nach Hause zurück.
11
Jeden Morgen machte ich meine Zeitungsrunde und half Tante Lydia anschließend auf dem Hof. Ich muss gestehen, dass ich die Hühner und ganz besonders Melissa Lynn ins Herz geschlossen hatte. Das Schwein folgte mir überall hin. Könnte man mit einer Sau befreundet sein, käme sie auf jeden Fall in die engere Auswahl.
Melissa Lynn ist superdick, und das gefällt mir an ihr. Wenn ich neben ihr stehe, komme ich mir richtig schlank vor. Die Hühner sind nicht ganz so angetan von ihr, ich habe das Gefühl, sie fühlen sich ihr überlegen, aber so was ist Melissa Lynn piepegal.
Sie macht, was sie will. Ob sie im Dreck wühlen will, ob sie ein Nickerchen halten will, ob sie sich im Schlamm wälzen oder kacken will – sie tut es einfach. Und wenn die Hühner ärgerlich zeternd vor ihr fliehen, die kleinen weißen Hintern in der Luft, juckt sie das nicht die Bohne.
Melissa Lynn ist genau mein Typ. Ich bewundere sie sehr. Erstaunlich, was man von einem Schwein so alles lernen kann.
Es machte mir auch nichts aus, ihren Koben auszumisten, denn sie schien meine Mühe wertzuschätzen. Sie stand immer neben mir, schnaubte ermutigend und hatte ihren Ferkeln schon beigebracht, es ihr gleichzutun. Sie forderte ihrem Nachwuchs ordentliches Benehmen ab. Ganz anders als bei vielen Menschen!
Das Eiersammeln kann eine Weile dauern. Schließlich gibt
es Hunderte von Hühnern. Die meisten sind ganz nett, andere nicht so. Vor ein paar Tagen bekam Tante Lydia per Lkw sechzig Küken geliefert. Es ist so reizend, sie zu beobachten und in die Hand zu nehmen. Sie wohnen in der gelben Scheune. Aus Sperrholz wurden runde Wannen gezimmert, über ihnen hängen Lampen, die die Küken wärmen.
»Ist schon lange her, dass ich das mit den Hühnern lernen musste und Lehrgeld bezahlt habe«, erzählte Tante Lydia mir eines Tages und stieß die Forke in einen Heuballen. »Man kann sie nicht in ein rechteckiges Gehege sperren, sonst steigen sie auf der Suche nach Wärme alle übereinander und zerdrücken die kleinen. Dann bekommt man nur plattgetretene Hühner. Und das Licht muss an der richtigen Stelle sein, in der Mitte der Wanne. Wenn man das Licht in die Ecke hängt, gibt es dasselbe Ergebnis: plattgetretene Hühner.«
Tante Lydia griff zu der Pistole, die sie an der Hüfte trug, weil sie zuvor trainiert hatte. Sie spannte den Hahn, zielte und drückte ab. In zwanzig Metern Entfernung flog eine Schlange durch die Luft. »Ich kann es nicht leiden, wenn sich Schlangen an meine Ladys heranmachen«, sagte sie. »Also, nicht vergessen: Hühner steigen gerne übereinander, Julia, deshalb müssen ihre Gehege die richtige Form haben, wo das Licht niedrig genug hängt.«
Mir war der Schreck in die Glieder gefahren, als sie mir nichts, dir nichts, die Schlange erschossen hatte. Ich versicherte Lydia, dass ich es nicht vergessen würde: Um nichts in der Welt wollte ich schuld sein am Tod eines Huhns.
Ich sammelte weiter Eier ein und bestaunte Tante Lydias Treffsicherheit. Von Robert hatte ich nichts mehr gehört. Doch ich wusste, dass meine Mutter ihren neuesten Freund bald leid sein und zurück nach Boston ziehen würde. »Ich habe meine Wurzeln in dieser Stadt. Deine, ich weiß nicht, wie vielte Urururoma ist als junges Mädchen auf der
Mayflower
rübergekommen. Ich bin praktisch eine Königin!«, verkündete
sie gerne und wankte herum, wenn sie genug Alkohol intus hatte.
Früher hatte ich immer gehofft, meine Mutter würde eines Tages nüchtern genug sein, um einzusehen, wie grässlich meine Kindheit gewesen war, und um sich dafür zu entschuldigen – vielleicht wenn sie am Gehirn operiert wurde oder, von Killerbienen angegriffen, im Sterben lag.
Dazu war es nie gekommen. Als ich sie zum letzten Mal sah, hatte sie Geld gewollt. Ihre schlaffe Haut hing lose an den Knochen. Ihr Haar war blond, fast weiß, wie gebleichtes Stroh.
Sie kam herein, ohne mich zu umarmen oder mir einen
Weitere Kostenlose Bücher