Spiel mir das Lied vom Glück
anzufassen, Lampen und Besteck zum Beispiel. Nur mit der Kraft ihrer Gedanken. Sehr praktisch beim Kochen. Einmal hat sie einen Tisch angehoben. Anscheinend hatte sie etwas gegen die Frau, die dort saß.«
»Es liegt also in der Familie. Aber anscheinend hast du die schwierigste Fähigkeit.«
»Ja, in vielerlei Hinsicht. Ich würde lieber Vasen und Staubsauger bewegen können oder anderen von ihren früheren Leben erzählen, als zu wissen, dass Hunderte von Menschen bei einem Erdbeben ums Leben kommen werden, und es nicht verhindern zu können.«
»Wann fing das bei dir an?«
»Schon als Kind, da erzählte ich meinen Eltern von den Visionen. Ihnen war schnell klar, welche Gabe ich geerbt hatte. Ich schilderte ihnen, was ich sah, anschließend lasen sie in der Zeitung davon. Manches geschah in der Nähe, manches in anderen Staaten oder Ländern.
Als ich kleiner war, verstand ich überhaupt nicht, wen
oder was ich da sah. Ich sah schreiende Frauen mit schwarzem Schleier vorm Gesicht und hörte Schüsse. Ich sah Überschwemmungen und fliehende Menschen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ich sah weinende kleine Kinder, die in dunklen Zimmern eingeschlossen waren. Ich sah einen vor Schmerzen stöhnenden Mann auf einem Schlachtfeld. Ich verstand das nicht. Ich wusste nur, dass es mich zum Weinen brachte.
Aber jeden Sommer fuhr ich mit meiner Mutter aus Boston hinaus aufs Land, wo wir ein Ferienhaus hatten. Da wurden die Visionen dann spürbar weniger. Vielleicht weil ich nicht mehr mitten in der Stadt war mit diesen Menschenmassen und all den unbeherrschten Gefühlen. Vielleicht konnte ich mich auf dem Land besser entspannen. Weiß nicht.«
»Deshalb bist du nach Golden gezogen.«
»Das war einer der Gründe«, erwiderte Caroline leise.
Ich fragte nicht nach den anderen. Ich hatte das Gefühl, es sei ihr ganz recht.
»Aber bei mir, Caroline, hast du Robert gesehen. War er hier, in Golden?« Ich hielt die Luft an.
Sie wurde etwas blasser. »Ja. Er ist noch nicht da, Julia. Ich hoffe, dass ich es spüre, wenn er kommt, damit ich dich warnen kann. Dann kannst du untertauchen, bis er wieder fort ist.«
Ich sagte nichts. Ich wusste, dass sie meine Dankbarkeit spürte.
Das Goodwill sollte sich als Goldmine für mich herausstellen. Ich kaufte mehrere Pullis, zwei Jeans, fünf T-Shirts und zwei Stoffhosen, eine schwarze und eine beige. Ich erstand mit Pelz gefütterte beige Stiefel, die ich verdammt schick fand, ein Paar schwarze Schuhe für jeden Tag und weiße Pumps. Da musste jemand gestorben sein, der genau meine Größe hatte. Die Schuhe sahen aus, als seien sie noch nie getragen worden. Ich
hatte keine Ahnung, wann ich die Pumps anziehen würde, aber für drei Dollar überlegte ich nicht allzu lange.
Außerdem fand ich eine Jeansjacke und einen langen schwarzen Mantel, einen schwarzen Hut, schwarze Handschuhe und eine knallrote Handtasche, die total süß aussah.
Caroline kaufte zwei Röcke, drei Pullis, eine violette und eine braune Jeans (dünne Menschen können tragen, was sie wollen, sie sehen immer gut aus), einen Stapel Bücher, mehrere Körbe für ihren Kleiderschrank, zwei Pfannen, die noch ganz neu aussahen, sowie Teller aus blauer Keramik, die noch verpackt waren.
Wir jubelten fast vor Freude, als wir wieder aufbrachen. Es ist schrecklich, arm zu sein, aber es ist herrlich, arm zu sein und sich plötzlich reich zu fühlen, so wie wir. Wir stiegen in Carolines »Blauen Teufel«, wie wir ihr Auto auf der Hinfahrt getauft hatten, und fuhren zu einem Lebensmittelgeschäft, um unser Mittagessen zu kaufen.
»Wenn man etwas essen muss«, erklärte Caroline, »bekommt man oft etwas Günstiges im Lebensmittelgeschäft. Man nimmt das Angebot des Tages, bezahlt den Rest mit Rabattmarken, und fertig ist die Sache.« Wie zum Beweis zog sie ein großes Heft mit Rabattmarken hervor und wies mich an, sie durchzusuchen. »Dieser Laden nimmt alle Marken, also reiß alle raus, die du gebrauchen kannst. Ich muss noch ein bisschen einkaufen.«
Also riss ich die Rabattmarken heraus, die mir geeignet vorkamen, und reichte sie Caroline. Kaum hatten wir den Laden betreten, begann der ernsthafte Unterricht im Fach »Einkaufen mit Caroline«. Sie war ganz aufgeregt und wollte auch aus mir einen Schnäppchenjäger machen.
»Schau mal hier, Julia«, sagte sie und wies mich auf die Preisdifferenz zwischen einem Markenprodukt und einem Noname-Produkt hin. Mit Hilfe von Rabattmarken, Gutscheinen und Nachlässen
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