Spiel mit dem Mörder
geschlüpft.
Er stopfte seine schmalen Schultern und die schmale Brust etwas aus, versteckte die Wattierung unter einem schlichten dunklen Anzug und stieg in die Schuhe, in denen er zweieinhalb Zentimeter größer aussah, als er tatsächlich war.
Er ließ sich Zeit, als er das Ergebnis der Verwandlung in dem großen, dreiteiligen Spiegel eingehend studierte, um zu prüfen, ob der alte Kenneth Stiles noch irgendwo hervorlugte, und lächelte zum ersten Mal seit über einer Stunde.
Er könnte direkt auf Lieutenant Dallas zumarschieren und sie auf den Mund küssen, und trotzdem würde er nicht von ihr erkannt.
Gestärkt durch die Verwandlung schlang er ein elegantes Cape um seine Schultern und verließ das Haus, um die Frau zu treffen, die seit fünfundzwanzig Jahren seine große Liebe war.
Sie ließ ihn warten. Sie hatte ihn schon immer warten lassen, dachte er. Er hatte eine kleine, gemütliche Bar für das Treffen gewählt, die schon lange nicht mehr »in« war, doch die Musik war leise und romantisch, die Gäste und auch die Angestellten waren unaufdringlich, und die Getränke kamen schnell.
Er nippte an seinem Gin und blätterte in dem alten Band mit Shakespeare-Sonetten, der das Erkennungszeichen war.
Sie hatte ihm das Buch vor all der Zeit geschenkt. Er hatte es als Zeichen ihrer Liebe angenommen und nicht als Ausdruck ihrer Freundschaft, das es gewesen war. Selbst als ihm dieser Irrtum bewusst geworden war, hatte er das Buch weiterhin gehütet wie einen großen Schatz.
Natürlich hatte er die Polizei belogen. Er hatte niemals den Kontakt zu ihr verloren, hatte stets gewusst, wo sie sich aufhielt, was sie tat. Hatte ihr gegenüber eben eine andere Rolle übernommen, die eines Vertrauten und eines echten Freundes, dachte er.
Und im Verlauf der Zeit, nachdem er diese Rolle über Jahre hinweg beibehalten hatte, hatte er sich nicht nur daran gewöhnt, sondern festgestellt, dass sie ihm regelrecht gefiel.
Trotzdem machte sein Herz, als sie ihm gegenüber Platz nahm und ihm die Hand gab, wie üblich einen Satz.
Sie hatte ihre Frisur und ihre Haarfarbe verändert. Es lag wundervoll zerzaust wie eine dunkelrote Wolke um ihr hübsches Gesicht. Ihre Haut wirkte wie aus hellem Gold. Er wusste noch genau, wie herrlich weich sie war. In ihren ausdrucksvollen, braunen Augen lag eine gewisse Besorgnis, doch ihr voller Mund sah ihn mit einem, wenn auch etwas zögerlichen, so doch warmen Lächeln an.
»Dann liest du also noch immer in dem Buch?« Ihre weiche Stimme hatte einen leichten französischen Akzent.
»Ja, oft. Anja.« Er drückte ihre Finger und ließ dann von ihr ab. »Lass mich dir einen Drink bestellen.«
Sie lehnte sich zurück und wartete, während er einem Kellner winkte und ein Glas Sauvignon erbat.
»Du hast es nicht vergessen.«
»Weshalb hätte ich es vergessen sollen?«
»Oh, Kenneth.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich wünschte, die Dinge hätten sich anders entwickelt. Hätten sich anders entwickeln können.«
»Nicht«, mahnte er sie schärfer, als es seine Absicht gewesen war. Es tat halt nach wie vor weh. »Die Zeit, um irgendwelche Dinge zu bedauern, ist längst vorbei.«
»Ich glaube nicht, dass diese Zeit jemals ein Ende nimmt.« Sie seufzte leise auf. »Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens damit zugebracht zu bedauern, was damals zwischen mir und Richard war.«
Er schwieg, und erst, nachdem sie ihren Wein bekommen und den ersten Schluck getrunken hatte, sagte er zu ihr: »Die Polizei denkt, ich hätte ihn umgebracht.«
Sie zuckte so heftig zusammen, dass sich etwas von dem Wein über den Rand des Glases auf dem Tischtuch ergoss. »Oh, nein! Das ist völlig unmöglich. Das ist einfach absurd.«
»Sie wissen, was vor vierundzwanzig Jahren passiert ist.«
»Was willst du damit sagen?« Sie packte seine Hand und drückte sie wie in einem Schraubstock zusammen. »Was wissen sie genau?«
»Beruhig dich. Sie wissen, dass ich ihn verprügelt habe, verhaftet und verurteilt worden bin.«
»Aber wie ist das möglich? Das ist so lange her, und die Akten wurden doch versiegelt.«
»Eve Dallas. Lieutenant Dallas«, erklärte er verbittert und nahm einen Schluck Gin. »Sie hat keine Ruhe gegeben, bis sie Einsicht in die versiegelten Akten bekommen hat. Sie haben mich auf das Revier verfrachtet, in ein Verhörzimmer gesetzt und dort auf mich eingehämmert, bis ich kaum noch wusste, wo mir der Kopf gestanden hat.«
»Oh, Kenneth. Kenneth, mon cher, das tut mir entsetzlich Leid. Das
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