Spiel mit dem Tod
Ihrer Studenten …“
„Nicht wie Alice. Ihr Verstand …“ Er zögerte, als müsse er nach dem richtigen Wort suchen, „… flößt mir Ehrfurcht ein.“
Stacy wusste nicht, was sie sagen sollte. Vermutlich konnte ein gewöhnlicher Mensch wie sie solch herausragende Intelligenz gar nicht richtig begreifen.
Er beugte sich nach vorn. „Tatsache ist, ich habe so etwas wie eine Hippie-Mentalität. Mir gefällt die Freiheit, die man als Privatlehrer genießt. Wir setzen den Unterricht und die Zeiten selbst fest. Keine Routine.“
„Manchmal hat es seine Vorteile, wenn man weiß, was einen erwartet.“
Er nickte und lehnte sich wieder zurück. „Sie sprechen jetzt von Ihren eigenen Erfahrungen. Eine ehemalige Kripobeamtin wird zur Beraterin? Dahinter steckt eine Geschichte, könnte ich wetten. Genug gehabt von all dem Blut und den Eingeweiden?“
„So was in der Art.“ Sie sah auf ihre Uhr und stand auf. „Ich unterbreche die Unterhaltung nicht gern, aber …“
„Sie müssen studieren“, sagte er. „Ich auch.“ Er lächelte versonnen. „Vielleicht können wir ja mal irgendwann eine Diskussion über die Romantiker führen.“
Als sie sich verabschiedeten, hatte sie das Gefühl, er wollte mehr als nur über Literatur zu sprechen.
Aber was?
19. KAPITEL
Dienstag, 8. März 2005
21:30 Uhr
Stacy saß im ersten Stock der UNO-Bibliothek, umgeben von Büchern. Eines davon war eine Ausgabe von „Alice im Wunderland“. Sie hatte die Geschichte gelesen – zweihundertvierundzwanzig Seiten – und sich dann durch ein halbes Dutzend kritischer Abhandlungen über den Autor und sein berühmtestes Werk gearbeitet.
Sie hatte herausgefunden, dass Lewis Carroll von einigen als der Leonardo da Vinci seiner Zeit betrachtet wurde. Das war interessant, zumal sich ihr neuer Boss als ein moderner da Vinci bezeichnete. Der Autor hatte sich die Geschichte ursprünglich für ein junges Mädchen während eines Parkspaziergangs ausgedacht und sie erst später aufgeschrieben. Daraus war dann nicht nur ein Klassiker geworden, sondern eine Erzählung, die beinahe zu Tode analysiert worden war. Laut den Abhandlungen war Alice im Wunderland alles andere als eine kindliche Fantasiegeschichte über ein Mädchen, das in eine Kaninchenhöhle fällt, hinein in eine bizarre Welt, sondern handelte von Tod, Verzicht, Gerechtigkeit, Einsamkeit, Erlösung.
Stacy fragte sich, ob die Kritiker und Literaturwissenschaftler sich das alles aus den Fingern gesogen hatten, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Solche Erwägungen würden ihren Professoren nicht besonders gefallen.
Stacy warf ihren Kuli auf den Tisch und rieb sich die Stirn, müde, hungrig und von sich selbst enttäuscht. Das Studium war die Chance, ihr Leben zu ändern. Wenn sie es verpatzte, was sollte sie dann machen? In den Polizeidienst zurückkehren?
Nein. Niemals.
Aber sie musste unbedingt diesen Mistkerl festnageln, der Cassie umgebracht hatte. Das war sie ihrer Freundin schuldig. Wenn ihr das schlechte Noten einbrachte – dann sollte es eben so sein.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Essay vor ihr. Die zugrunde liegende Idee von einer Welt, wo das Normale verrückt ist und die Gesetze von …
Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Sie kämpfte gegen die Tränen an, den Drang loszuheulen. Sie hatte seit jenem unseligen Abend, als sie die Toten gefunden hatte, nicht mehr geweint. Und das würde sie auch jetzt nicht tun. So schwach war sie nicht.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie still es in der Bibliothek war. Sie hatte das Gefühl eines Déjà-vu, schnell griff sie nach dem Kugelschreiber und lauschte. Als würde sich der Donnerstagabend wiederholen, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Schritte, ein Rascheln.
Sie sprang auf und wirbelte herum, den Kugelschreiber wie eine Pistole ausgestreckt.
Malone. Grinste sie an wie Carrolls verdammte Grinsekatze.
Er hob ergeben die Arme. In einer Hand hielt er eine Ausgabe von Cliffs Anmerkungen zu „Alice im Wunderland“.
Na großartig, sie hatten beide die gleiche Idee gehabt. Jetzt würde sie gleich losheulen.
Spencer zeigte auf den Kugelschreiber. „Vorsicht, Waffe runter. Ich komme in friedlicher Absicht.“
„Sie haben mich erschreckt“, sagte sie verärgert.
„Tut mir Leid.“
Er sah aber überhaupt nicht so aus. Sie warf ihren Kuli auf den Tisch. „Warum schleichen Sie hier in der Bibliothek herum?“
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Aus demselben
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