Spiel um Macht und Liebe (German Edition)
weißt du? Er wird immer dort stehen, auch wenn wir sterben. Ich wollte dich nicht verletzen, Lucy. Bestimmt nicht.“
Er konnte spüren, wie sie sich unter seiner Berührung verkrampfte. Ihre Schulterknochen traten so deutlich hervor, dass sie kaum noch von Muskeln bedeckt sein konnten. Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt war sie fast dünn. Unvermittelt überkam ihn eine beschützerische, zärtliche Liebe.
„Hör zu, ich sage ihnen, sie sollen ihn wieder abholen“, setzte er mit rauer Stimme an. „Ich hätte niemals …“
„Nein … Nein. Lass den Baum. Du … Du hast das Richtige getan“, sagte Lucy.
Er konnte sehen, dass sie gegen die Tränen ankämpfte. Lucy, die immer so schnell geweint und ihren Gefühlen wie ein Kind freien Lauf gelassen hatte. Und in gewisser Weise war ihm dieses Ankämpfen dagegen jetzt unerträglich. Er wollte sie im Arm halten und beschützen, ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Er würde dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung war, doch wie konnte er das, wenn er ihr so viele Schmerzen bereitete?
„Ich wollte nur irgendetwas tun, um ihm zu zeigen, dass er nicht vergessen wurde“, sagte er mit unsicherer Stimme und suchte nach Worten, um ihr zu verstehen zu geben, was ihn dazu gebracht hatte. Und gleichzeitig wusste er, dass sie ihn früher auch ohne Worte und mühsame Erklärungen verstanden hätte.
„Oh, Giles.“
Beim Klang der Gefühle in ihrer Stimme blickte er sie an. Es lag keine Wut darin, kein Anzeichen für einen weiteren Ausbruch, den er erwartet hatte. Obwohl ihre Augen vor Tränen glänzten, entdeckte er darin kein Anzeichen von Abneigung oder Ablehnung.
„Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich der einzige Mensch, der sich überhaupt daranerinnert, dass er gelebt hat. Als wolle sich niemand sonst daran erinnern.“ Der Schmerz in ihrem Tonfall traf ihn tief und zerriss ihn innerlich fast. „Niemand spricht je seinen Namen aus oder redet von ihm.“
Er konnte all ihre Empfindungen aus ihrer Stimme heraushören, auch ihren Schock darüber, dass sie ihm sagte, was in ihr vorging. Wieder einmal überkam ihn das Gefühl, sie enttäuscht zu haben, weil er ihre wichtigsten Bedürfnisse nicht erkannt hatte.
Wie war es nur gekommen, dass er ihren Gefühlen gegenüber so blind gewesen war? Weshalb hatte er sich auf andere verlassen, die ihm gesagt hatten, wie er sich zu verhalten hatte? Wieso hatten sie ihren Schmerz und Kummer über den Tod ihres Kindes nicht miteinander teilen können? Sie hatten es doch auch zusammen gezeugt, weshalb hatten sie den Verlust nicht teilen können?
„Es stimmte nicht, dass ich ihn nicht wollte“, sagte Lucy ihm mit heiserer Stimme. „Ich hatte Angst, das war alles. Angst.“
„Ich weiß“, sagte Giles ihr, und während er es aussprach, wusste er, das es die Wahrheit war. Er hob den Kopf und sah aus dem Küchenfenster.
Die Männer waren gegangen. Der Baum stand dicht an dem stützenden Pfahl, als fürchte er sich noch etwas in der neuen Umgebung und in seiner Rolle. Er war jung und verletzlich, und er brauchte Unterstützung, damit er wachsen und seine Stärke entwickeln konnte, genau, wie alle verletzlichen Lebewesen Halt brauchten.
„Was ist los?“, fragte Lucy, als Giles ihre Hand nahm und sie mit sich aus der Hintertür zog. Doch sie folgte ihm.
Ein bisschen unsicher runzelte sie die Stirn, als er sie zu dem Baum führte, und sie wirkte noch verunsicherter, als er den Baum berührte, als würde er ihn streicheln. Die Rinde war dünn und weich. Sie konnte den Baum noch nicht schützen. Lucy berührte sie auch vorsichtig und wusste selbst nicht genau, wieso sie das tat. Es fühlte sich warm an, wie ein lebender Körper, und sie blickte zu Giles.
„Er braucht unsere Liebe“, sagte er ihr ernsthaft. „Um wachsen zu können, um ihn zu schützen und ihm zu helfen.“
„Ja“, stimmte sie mit zitternder Stimme zu. Tränen des Schmerzes und des Kummers standen ihr in den Augen, aber jetzt kam auch noch etwas anderes dazu.
Ein Wissen, eine Hoffnung. Liebe? Sie war sich nicht sicher. Aber sie wusste mit einem Mal, dass sie es Davina nicht leicht machen würde, ihr Giles wegzunehmen. Und mit diesem Entschluss erlangte sie auch ihre Energie und ihre Durchsetzungsfähigkeit wieder.
Müde hatte Davina das Kostüm ausgezogen. Zuerst hatte sie ein Hochgefühl darüber empfunden, sich durchgesetzt und das Treffen geleitet zu haben, indem sie die Überraschung ausgenutzt hatte, die sie mit ihrem
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