Spiel um Macht und Liebe (German Edition)
verliehen worden war, wehte noch nicht auf Halbmast, doch seltsamerweise wurde sie von keinem Windhauch bewegt.
Helga erwartete ihn bereits. Sie arbeitete schon für die Familie, so weit Leo zurückdenken konnte. Ihr Mann kümmerte sich um Reparaturen am Schloss und hatte viele Jahre als Chauffeur von Leos Großmutter gearbeitet. Er wusste, wie sehr die beiden seine Großmutter mochten. Es gab Menschen, die sie nicht gut kannten und sie für herrisch und verschlossen hielten, aber Leo kannte die Wärme, die hinter ihrem förmlichen Verhalten lag.
„Meine Großmutter“, setzte er an, und sein Herz stand beim Anblick von Helgas Tränen still.
„Sie lebt noch“, sagte Helga. „Aber die Schwester sagt, dass es nicht mehr lange dauern kann.“
Wortlos tätschelte Leo ihre Hand, und seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht in der großen Eingangshalle zu gewöhnen. Dies war ursprünglich der Festsaal des mittelalterlichen Schlosses gewesen, und Leo meinte immer noch die früheren Besitzer hören zu können, auch wenn seine Vorfahren den Saal im achtzehnten Jahrhundert mit Holz verkleidet hatten. Ausgebleichte Teppiche, die denen ähnelten, die von den Kreuzzügen mitgebracht worden waren, lagen hier und dort und setzten gedämpfte Farbkleckse auf den grauen Steinboden. Eine Steintreppe führte nach oben, und die groben Stufen bekamen nur durch das reich geschnitzte Holzgeländer einen etwas freundlicheren Charakter.
Im zweiten Geschoss gab es ein hohes Fenster, in dem mit farbigem Glas das Familienwappen dargestellt war. Das Fenster wies auf den Neckar. Im Zweiten Weltkrieg hatte der Kommandeur, der im Schloss stationiert war, darauf bestanden, dass das Fenster herausgeschlagen würde, damit man den Fluss und den Himmel besser beobachten könne.
Es hieß, Leos Großmutter habe gesagt, der Kommandeur könne gern einen Mann abstellen, die farbigen Glasteile Stück für Stück herauszunehmen und durch farbloses Glas zu ersetzen. Sie würde jedoch nicht zulassen, dass das Erbe ihrer Familie einfach zerstört werde, um einen Blick auf den Neckar zu bekommen, den man genauso gut aus einem der vielen anderen Fenster im Obergeschoss habe.
Diese Geschichte wusste Leo von Helga, und er war von der Durchsetzungskraft seiner Großmutter viel zu sehr überzeugt, um sie anzuzweifeln.
Jetzt schien die Abendsonne durch das Farbfenster und ließ das Bild eines kleinen Kindes golden aufstrahlen. Angeblich hatte ein Baron im Mittelalter dieses Kind seinem Feind als Geisel geschickt, um damit die Sicherheit seines eigenen Oberherrn zu beteuern. Doch man hatte ihm nur die Leiche seines kleinen Sohns zurückgeschickt.
Ja, von dem Schloss war schon einiges an Grausamkeit ausgegangen, und die Bewohnerhatten auch schreckliche Dinge erlebt. Leo konnte sich noch an sein Entsetzen erinnern, als Wilhelm ihm die Zelle gezeigt hatte, in der die Familie früher ihre Gefangenen und Geiseln eingesperrt hatte.
Trotz all der Gewalt der Vergangenheit wirkte das Schloss jetzt ruhig, als habe die Zeit die Schrecken der Geschehnisse getilgt. Leo kam es vor, als habe das Schloss schon so viel Grausames und so viele menschliche Schwächen erlebt, als habe es all diese Schwächen und menschliche Makel ertragen, sodass es jetzt aus seiner Erfahrung jeden, der es betrat, mit ruhiger Ernsthaftigkeit empfing.
Schon immer hatte Leo die Stimmung in dem Schloss stark beeindruckt, während sein Vater und Wilhelm, obwohl sie gern mit dem Schloss prahlten, in gewisser Weise dieses Gebäude ablehnten. Vielleicht fürchteten sie, im Vergleich zu dieser Geschichte klein und unbedeutend zu wirken.
Er ging allein die Treppe hinauf. All die Gänge und langen Flure waren ihm viel zu vertraut, um darüber nachzudenken, wo er hinging.
Das Zimmer seiner Großmutter befand sich im Westflügel. Dorthin war sie als junge Braut gekommen. Ihre einzige Tochter war hier geboren, und ihr Ehemann war in diesem großen Bett gestorben, in dem schon so viele Generationen seiner Familie in das Leben getreten waren und es wieder verlassen hatten.
Er klopfte kurz an, bevor er das Zimmer betrat. Die Krankenschwester saß neben dem Bett, doch sie stand auf, als Leo den Raum betrat. Sie war eine große Frau Ende dreißig und bewegte sich mit dem scheinbar mühelosen Gleiten, das sich viele Krankenschwestern aneigneten. Obwohl sie keine Uniform trug, konnte Leo fast das Knistern des gestärkten weißen Kittels hören, als sie sich bewegte.
Er blickte zum Bett.
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