Spiel um Macht und Liebe (German Edition)
gesträubt.
Zum ersten Mal in seinem Leben als Erwachsener erfuhr er, dass der Verstand nicht immer die Gefühle beherrschen konnte. Diese Erkenntnis versetzte ihn in lähmendes Entsetzen, das für ihn so schlimm wie für andere Menschen ein Nervenzusammenbruch war.
Es hatte Wochen, fast Monate gedauert, bevor er hatte akzeptieren können, was mit ihm geschehen war. Und seit dieser Zeit erlebte er eine Phase, in der er sich ständig selbstdurchleuchtete und sein Verhalten schmerzhaft genau beobachtete.
Seit Jahren achtete er auf sich selbst und sah sich nicht in dem Bild, das sein Vater für ihn gemalt hatte. Dieses Bild war immer von seinem Vater beherrscht worden, aber als selbstständiger Mann mit einem Recht auf eigene Gefühle und Bedürfnisse hatte er einen seelischen Schmerz verspürt, als habe er etwas äußerst Wichtiges im Leben versäumt.
Er hatte versucht, dieses Gefühl nicht zu beachten und dagegen anzukämpfen, aber es ließ ihn nicht los. Es klagte ihn an und zeigte ihm ständig den Unterschied zwischen dem Leben, das er führte, und dem, das er hätte führen können.
Ein anderer an seiner Stelle hätte vielleicht dem Vater die Schuld gegeben, aber Saul hatte ihn zu sehr geliebt, und er liebte ihn immer noch. Aber glaubte er noch, dass die Ziele seines Vaters, die er rücksichtslos verfolgt hatte, für ihn die richtigen waren?
Erschöpft stand er auf. Es war spät, und er sollte im Bett liegen, anstatt hier herumzusitzen und sich sinnlose Gedanken zu machen.
Morgen würde er anfangen, sich unauffällig über Carey’s zu informieren. Es reichte nicht, dass die Firma sich nach einem Käufer umsah. Sie mussten auch das Angebot annehmen, das Sir Alex ihnen machen wollte. Und sie mussten die Folgen dieses Angebots hinnehmen.
Sir Alex war kein Menschenfreund. Er würde die Firma mit möglichst wenig Aufwand weiterlaufen lassen. Das bedeutete Verkauf vieler Maschinen und praktisch die Einstellung der Produktion. Die Firma sollte nur noch als Hülle dienen, die Sir Alex wiederbeleben konnte, wenn es ihm gefiel, damit er die Subventionen der Regierung ausnutzen konnte.
Das alles brauchte die Teilhaber der Firma allerdings nicht zu interessieren. Die Bank würde bestimmt liebend gern verkaufen, solange sie ihre ausstehenden Schulden zurückgezahlt bekam.
Die Kontrolle über die Firma lag bei Davina James, und nach allem, was Saul über sie gelesen hatte, würde sie sicher auch gern verkaufen.
Weshalb hatte er dann dieses nagende Gefühl, dass es nicht so einfach wie geplant laufen würde, Carey Chemicals aufzukaufen?
11. KAPITEL
Leo wurde um vier Uhr nachmittags aus dem Schloss angerufen. Er kam gerade von einer anstrengenden Vorstandssitzung, auf der er sich nur mit Mühe hatte beherrschen können, weil Wilhelm sich jedem seiner Vorschläge widersetzt hatte.
Einerseits hätte er darüber lachen mögen, dass sein Bruder ihm einfach nicht glauben wollte, dass es ihm genauso unerklärlich war, weshalb ihr Vater ihm und nicht Wilhelm die Kontrolle über die Firma übertragen hatte. Andererseits regte er sich innerlich über diese ablehnende Haltung maßlos auf. Was konnte Wilhelm dagegen haben, mehr junge Studienabgänger aus den benachbarten EG-Staaten aufzunehmen? Die ständigen bissigen Widersprüche seines Bruders riefen bei ihm einen Migräneanfall hervor.
Schon vor Jahren glaubte er, keine Probleme mehr mit Migräne zu haben, und er fand es seltsam, dass er fast in dem Moment einen neuen Anfall bekam, in dem er die Firma übernahm.
Sein Vater hätte ihm gesagt, das sei ein Zeichen von Schwäche. Doch Leo hielt es eher für ein äußeres Anzeichen seines Schuldbewusstseins. Er gab sich die Schuld, seinen Bruder, ohne es zu wollen, um die Rolle gebracht zu haben, die Wilhelm immer spielen wollte.
Aber wieso trat er dann nicht einfach zurück und ließ Wilhelm seinen Platz einnehmen? Leo verzog das Gesicht. Wilhelm wusste so gut wie er, dass das nicht möglich war. Das Testament ihres Vaters traf in dieser Hinsicht ganz genaue Vorgaben. Als sie Leo vorgelesen worden waren, hatte es ihn am meisten verblüfft, dass sein Vater in erster Linie nicht verfügt hatte, dass Leo die Firma übernahm, sondern auf jeden Fall sichergehen wollte, dass Wilhelm die Leitung nicht bekam.
Als er am Telefon die vertraute Stimme der Haushälterin seiner Großmutter erkannte, war er nicht sonderlich besorgt. Doch beim verängstigten Klang ihres Flüsterns verkrampfte sein Magen sich, und er umklammerte den
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