Spiel um Macht und Liebe (German Edition)
Hörer.
Seine Großmutter war jetzt zweiundneunzig, sie hatte ihren Mann, ihre Schwestern und sogar ihre Tochter überlebt. Jetzt schien es, dass auch sie am Ende ihres langen Lebens angelangt war.
Die Krankenschwester hatte darum gebeten, dass den Enkeln der Baronin mitgeteilt werde, dass die alte Dame im Sterben liege. Die Stimme der Haushälterin war tränenerstickt. Leo versprach, so schnell wie möglich zu kommen. „Ich fliege sofort los, Helga.“
Sobald er aufgelegt hatte, rief er in Wilhelms Büro an. Doch dort wurde ihm nur mitgeteilt, dass sein Bruder das Büro verlassen habe, ohne zu sagen, wohin er gehe.
Leo presste die Lippen zusammen. Das hieß, dass Wilhelm seine neueste Flamme besuchte. Wie der Vater, so der Sohn, und Wilhelm legte wie sein Vater keinerlei Wert darauf, den Treueschwur seiner Ehe zu halten. Wenigstens misshandelte Wilhelm seine Frau Anna nicht körperlich. Nicht, soweit Leo wusste.
Grübelnd blickte Leo aus dem Bürofenster. Vor ihm lag die vertraute Hamburger Kulisse mit den Hafenkränen und der Elbe. Wilhelm hatte nie diese enge Beziehung zu seinen Großeltern gehabt, durch die Leos traurige Kindheit so gedämpft worden war. Die Ferien auf dem Schloss hatte Wilhelm immer als eine Art Gefangenschaft aufgefasst, obwohl er gerissen genug war, den Titel seines Großvaters zu erwähnen, wenn er sich davon einen Vorteil versprach. Und Leo wusste, dass Wilhelm wie sein Vater verärgert darüber war, dass der Titel von der mütterlichen Seite stammte, die eine jahrhundertelange Tradition hatte und deren blaues Blut bis zur Zeit Karls des Großen zurückreichte.
Ihre Eltern waren ganz entfernt verwandt. Leos Großvater väterlicherseits war ein entfernter Cousin des Vaters seiner Mutter. Die Eltern hatten sich getroffen, als Heinrich von Hessler auf der Suche nach seinen Ahnen zum Schloss gekommen war.
Das war kurz nach Kriegsbeginn gewesen, und Leo war immer erstaunt darüber gewesen, dass sein Vater zu jener Zeit so frei umherreisen konnte. Doch wie bei so vielen anderen Punkten auch hatte er schnell gemerkt, dass er dieses Thema lieber nicht ansprach.
Während er seiner Sekretärin den Grund seiner Abreise erklärte, rief er Wilhelms Frau an. Anna war eine elegante, sehr zierliche Frau, die Leo insgeheim leidtat. Sie hatte als Model gearbeitet, als Wilhelm sie traf, aber ihre jugendliche Schönheit war schon vor Langem einer grauen Verzweiflung gewichen, als sie sich dem Alltag ihrer Ehe mit Wilhelm beugte.
Er hielt seinen Tonfall so sachlich wie möglich, während er ihr die Lage erklärte und sie bat, esan Wilhelm weiterzugeben, wenn er nach Hause kam.
„Du meinst, falls er nach Hause kommt?“, erwiderte sie verbittert.
Darauf wusste Leo keine Erwiderung. Er legte den Hörer auf, als seine Sekretärin hereinkam und ihm mitteilte, dass eine Privatmaschine der Firma bereitstehe, um ihn zum Schloss zu fliegen. Das Schloss wurde durch Firmengelder unterhalten, und Leo hatte immer gespürt, wie schwer es seinem Großvater fiel, auf die Großzügigkeit seines Schwiegersohns angewiesen zu sein. Sein Großvater war gestorben, als Leo fünfzehn war.
Er hielt nur kurz zu Hause an, um ein paar Sachen einzupacken, und fuhr dann zum Privatflugplatz, wo die beiden Maschinen der Firma standen.
Der Pilot wartete bereits auf ihn. Leo erwiderte die Begrüßung und folgte ihm zum Flugzeug.
Seine Großmutter war noch bei Bewusstsein, aber schon sehr geschwächt. Das hatte ihm die Haushälterin am Telefon gesagt. Woran mochte sie denken, während sie sich dem Ende ihres langen Lebens näherte? Leo fragte sich, ob sie eher an die Vergangenheit dachte oder an das, was vor ihr lag. Sie hatte so viel erlebt und gesehen. Beim Gedanken an ihren Tod verspürte er einen seelischen Schmerz, und der kleine Junge in ihm fürchtete sich davor, allein gelassen zu werden. Gleichzeitig war ihm die Unausweichlichkeit des Todes bewusst.
Aus der Luft wirkte der Neckar wie eine Spielzeuglandschaft. Der Fluss glitzerte im frühen Abendlicht, die steile Uferböschung leuchtete in unterschiedlichen Grüntönen, und die mittelalterlichen Schlösser ragten wie Stoßzähne aus dem Grün hervor.
Das Schloss der Familie war vergleichsweise klein, und die ursprüngliche mittelalterliche Bauweise wurde von der jüngeren Fassade aus dem siebzehnten Jahrhundert verdeckt. Leo konnte es jetzt vor sich sehen, während er mit dem Taxi vom Flugplatz kam. Die Familienflagge mit dem Wappen, das der Familie von Karl dem Großen
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