Spielen: Roman (German Edition)
Schatten hieß Ged. Der Schatten trug seinen Namen. Der Schatten war er selbst.
Als ich nach dem Lesen der letzten Seite das Licht löschte, war es fast zwölf, und meine Augen standen voller Tränen.
Der Schatten war er selbst!
Mindestens einmal, häufig auch zwei Mal in der Woche, war ich in jenem Herbst und Winter alleine zu Hause. Vater war auf Versammlungen, Yngve war bei Proben der Schulkapelle oder beim Volleyball- oder Fußballtraining oder bei einem seiner Freunde. Ich war gerne alleine zu Hause, es war herrlich, dass keiner über mich bestimmte oder etwas von mir wollte, gleichzeitig gefiel es mir letztlich aber doch nicht so gut, denn draußen wurde es nun immer früher dunkel, und die Spiegelbilder der Zimmer in den Fenstern, in denen meine eigene Gestalt umherging, waren ein furchtbar beunruhigender Anblick, da sie mit dem Tod und den Toten verbunden waren.
Ich wusste, dass dies eigentlich nicht stimmte, aber was nutzte mir diese Gewissheit?
Besonders unheimlich war es, wenn ich in dem verschwand, was ich las, denn dann kam es mir so vor, als wäre ich nirgendwo verankert, sobald ich den Blick von der Buchseite hob und aufstand. Ganz allein war ich, das war das Gefühl, wirklich vollkommen allein, isoliert durch die Dunkelheit, die wie eine Wand vor dem Haus stand.
Sicher, wenn ich genügend Zeit hatte, bevor Vater heimkehrte, konnte ich mir ein Bad einlassen, denn er sah es nicht gern, dass ich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit badete, seiner Meinung nach reichte ein Bad in der Woche völlig, und er behielt das genauso sorgfältig im Auge wie alles andere, was ich tat. Aber wenn ich mir die Freiheit nahm und die Wanne mit Wasser füllte, mich hineinsetzte, den Kassettenrekorder anstellte und das heiße Wasser über meinen Körper schwappen ließ, sah ich mich selbst von außen, mit weit aufgerissenem Mund, als wäre mein Kopf ein Totenschädel. Ich sang, aber meine Stimme wandte sich gegen mich, ich tauchte den Kopf unter und bekam panische Angst: Ich konnte nichts sehen! Jemand würde sich anschleichen können! War da jemand? Die zwei, drei, vier Sekunden, die ich unter Wasser geblieben war, bildeten ein Loch in der Zeit, und in diesem Loch konnte sich jemand angeschlichen haben. Nicht unbedingt im Badezimmer, nein, da war keiner, aber im Haus.
Wenn es sich so verhielt, war es am besten, das Licht in der Küche oder in meinem Zimmer auszuschalten und aus dem Fenster zu schauen, denn wenn die Scheiben nichts widerspiegelten, lagen dort die anderen Häuser, waren dort andere Familien und tummelten sich manchmal auch andere Kinder im Freien. Nichts schenkte mir größere Geborgenheit, als das zu beobachten.
Als ich an einem solchen Abend im Dunkeln auf der Küchenbank kniete und hinausstarrte, schneite und stürmte es ganz fürchterlich. Der Wind heulte durch die Landschaft, es klirrte in den Dachrinnen, es rauschte im Kamin. Draußen herrschte völlige Dunkelheit, in den gelben Lichtkegeln unter den Straßenlaternen befand sich kein Mensch, nur wirbelnder Schnee.
Ein Auto kam die Straße herauf. Es bog in die Ringstraße, näherte sich unserem Haus. Wollte es zu uns?
Tatsächlich. Es fuhr in unsere Einfahrt und hielt.
Wer mochte das sein?
Ich lief aus der Küche, die Treppe hinunter und in den Eingangsflur.
Dort blieb ich stehen.
Uns kam doch keiner besuchen?
Wer konnte das sein?
Ich bekam Angst.
Ich ging bis zur Tür und presste die Nase gegen das wellige Glas. Ich brauchte nicht aufzumachen, konnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob ich die Leute kannte, die zu uns kamen.
Die Autotür ging auf, und eine Gestalt fiel heraus!
Die Gestalt näherte sich auf allen vieren !
Oh nein! Oh nein!
Sich wiegend wie ein Bär kam sie näher, hielt unter der Klingel inne und richtete sich auf zwei Beinen auf!
Ich schreckte zurück.
Was war das bloß für ein Geschöpf?
Ding-dong, ertönte die Türglocke.
Die Gestalt ließ sich wieder auf alle viere fallen.
Der abscheuliche Schneemensch? Lightfoot?
Aber hier? In Tybakken?
Die Gestalt richtete sich erneut auf, klingelte noch einmal, ließ sich danach wieder auf alle viere fallen.
Mein Herz hämmerte und pochte.
Doch dann begriff ich es.
Ach so, natürlich.
Es war der gelähmte Mann, der im Gemeinderat saß.
Er musste es sein.
Der abscheuliche Schneemensch würde ja wohl kaum im Auto kommen.
Ich öffnete die Tür, als die Gestalt gerade zum Wagen zurückkriechen wollte. Sie wandte sich um.
Er war es.
»Hallo«,
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