Spielen: Roman (German Edition)
sein?«
»Als ich in Bergen wohnte, erinnerst du dich?«, antwortete er. »Ich hatte dort eine Freundin, sie war Isländerin, und wir sind zusammen nach Reykjavík gefahren.«
»Während du mit Mama zusammen warst?«
»Ja. Ich war fünfunddreißig und wohnte in einer Studentensiedlung.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
»Ja, vielen Dank auch, mein Sohn.«
Natürlich erfuhren wir damals nichts von alldem, und es fehlte uns auch an der nötigen Lebenserfahrung, um es uns vorstellen zu können. Für mich zählte einzig und allein, dass er nicht zu Hause war. Aber obwohl sich das Haus öffnete und ich darin zum ersten Mal in meinem Leben tun konnte, wozu ich Lust hatte, blieb er auf seltsame Weise immer noch präsent, schlug der Gedanke an ihn wie ein Blitz in mir ein, wenn ich Schmutz in den Flur hineintrug oder wenn ich beim Essen auf den Tisch krümelte oder sogar, wenn mir beim Essen einer Birne Fruchtsaft übers Kinn lief. Kannst du nicht einmal eine Birne essen, ohne zu kleckern, Junge, hörte ich seine Stimme sagen. Und wenn ich in einer Klassenarbeit eine gute Note bekam, blieb er es, dem ich davon erzählen wollte, nicht Mutter, das war einfach etwas anderes. Gleichzeitig veränderten die Dinge, die draußen geschahen, langsam ihren Charakter, alles wurde zugleich schlimmer und besser, und es kam mir so vor, als würde die weiche Kinderwelt, in der einen die Schläge dumpf und sozusagen unplatziert trafen, da sie allem und nichts galten, schärfer und klarer, ein Zweifel wurde aus dem Weg geräumt, dich und was du sagst, mögen wir nicht, und das war eine Begrenzung, aber gleichzeitig öffnete sich etwas anderes, und dieses andere hing nicht mit mir persönlich zusammen, betraf mich aber womöglich in einem noch höheren Maße, denn ich war ein Teil davon, und dieser Teil hatte nichts mit meiner Familie zu tun, er war unser , gehörte zu uns, die wir da draußen waren. Ich fühlte mich in jenem Herbst, in dem ich in die fünfte Klasse kam, zu fast allen Mädchen sehr hingezogen, erlebte sie aber nicht als radikal anders, sondern trug etwas in mir, was es mir ermöglichte, mich ihnen zu nähern. Dass ich damit einen großen Fehler machte, ja, den größten Fehler, den ein Junge letztlich machen kann, war mir nicht bewusst.
Wir bekamen in jenem Schuljahr eine ältere Lehrerin namens Frau Høst, wir hatten sie in mehreren Fächern, und sie führte gerne Theaterstücke mit uns auf. Oft dramatisierte sie kleine Episoden, und ich meldete mich immer freiwillig, weil ich es liebte, wenn mich alle ansahen, aber auch, einen anderen zu spielen. Ich hatte ein besonderes Talent dafür, Mädchen zu spielen, das gelang mir ganz hervorragend. Ich strich die Haare hinter die Ohren, spitzte den Mund ein wenig, ging mit wippenden Schritten, sprach eine Spur affektierter als sonst. Manchmal lachte Frau Høst Tränen über mich.
Als ich eines Abends mit Sverre herumhing, der auch gerne Theater spielte, auch gut in der Schule war und mir so ähnlich sah, dass zwei Aushilfslehrer unabhängig voneinander geglaubt hatten, wir wären Zwillinge, schlug ich vor, bei Frau Høst vorbeizuschauen. Sie wohnte ungefähr drei Kilometer östlich von unserer Siedlung.
»Gute Idee«, meinte Sverre, »aber mein Rad hat einen Platten, und um dahin zu latschen, ist es zu weit.«
»Wir trampen«, schlug ich vor.
»Okay.«
Wir gingen zur Kreuzung hinunter und stellten uns an den Straßenrand. Im vergangenen Jahr war ich ziemlich oft getrampt, meistens zusammen mit Dag Magne, nach Hove oder nach Roligheden oder zu einem der anderen Orte, zu denen es uns hinzog, und wir hatten nie länger als eine Stunde warten müssen, bis uns einer mitnahm.
An diesem Abend hielt das erste Auto.
Es waren zwei junge Männer.
Wir setzten uns hinein. Es lief laute Musik, der Bass ließ die Scheiben klirren. Der Fahrer drehte sich zu uns um.
»Wo wollt ihr denn hin?«
Wir sagten es ihm, und er legte den Gang ein und beschleunigte so rasant, dass wir gegen die Rückenlehne gepresst wurden.
»Und wer wohnt da draußen?«
»Frau Høst«, antwortete Sverre. »Sie ist unsere Lehrerin.«
»Aha«, meinte der auf dem Beifahrersitz. »Wollt ihr der Guten einen Streich spielen? Das haben wir früher auch getan, als wir klein waren. Wir sind zu den Lehrern gefahren und haben sie zur Weißglut getrieben.«
»Nein, das haben wir eigentlich nicht vor«, erwiderte ich. »Wir wollen sie nur besuchen.«
Er drehte sich um
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