Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
Mitte durch und improvisiert damit eine Bandage, die sich rasch rot färbt, als sie sie um Bertis’ Zeh wickelt.
    Karen konnte plötzlich unmöglich noch mehr von dem verarbeiten, was ihr gerade zugemutet wurde, und ließ ihre Gedanken zurück zum frühen Morgen schweifen, einem Morgen, der so hoffnungsfroh begonnen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Toilettenartikel für den Flug gepackt hatte, wie sie in den Spiegel geschaut und gedacht hatte: Karen Dawson, du bist eine gut situierte weiße Frau in gesundem Ernährungszustand. Du könntest mit einem Crème-Brulée-Brenner ein Tupfenmuster in die Haustür des Bürgermeisters brennen, und niemand würde dich deswegen behelligen. Und dieser Warren wird Wachs in deinen Händen sein . Dann sah sie sich auf einmal aus einem bestimmten Winkel und erkannte das Gesicht ihrer Mutter in ihrem eigenen wieder – das Gesicht, dem die Alzheimerkrankheit mittlerweile jeden Ausdruck genommen hatte und das nun in einem teuren, nach Ozonriechenden Zimmer in Winnipeg dahindämmerte. Ob ich auch Alzheimer bekomme? Mein Genetikberater sagt, die Chancen stünden drei zu vier . Karens Mutter war nicht mehr kenntlich, Karens Mutter gab es nicht mehr. Während sie sich im Spiegel anstarrte, fragte Karen sich: Wann hören Leute eigentlich auf, Individuen zu sein, und werden zu einem generischen Vertreter der Spezies Mensch? Und wann hören sie dann auf, überhaupt Menschen zu sein, und verkümmern erst zur Pflanze, dann zum Mineral?
    Vielleicht kann man letztendlich keinen Menschen wirklich kennen. Aber zumindest einige davon kann man lieben – und einige zumindest lieben dich . Natürlich können sie auch wieder aufhören , dich zu lieben. Als Kevins Liebe zu ihr erlosch und er sich neu verliebte – auch noch in eine andere Empfangsdame –, hatte sich Karen gefragt: Wie viele verheiratete Männer gibt es da draußen, die am Snackautomaten den Tippsen Dinge ins Ohr flüstern wie Trüffelschweine? Sie fragte sich: Wie viele von ihnen verbringen ihre Mittagspausen in einem Motel unten am See? Und ihre Frauen – wie viele fangen an, Baileys zu trinken, während sie die Wäsche falten? Wie viele von ihnen sind fast krank vor Eifersucht wegen »diesem cleveren jungen Ding«, das mit neuen, frischen Ideen die Marketingabteilung umgekrempelt hat. Dieses junge Ding mit Zukunftsaussichten so groß wie Montana und Beinen wie Bambis Mutter.
    Während sie in den Spiegel schaute, dachte Karen: Na schön, es gibt also keine unsterbliche Liebe in dieser Welt, und man kann niemanden je wirklich kennen, aber zumindest haben wir den Himmel. Vielleicht heißt Himmel ja, verliebt zu sein, und dieses Gefühl endet nie – das Gefühl der Intimität endet nie – man ist einander vertraut in alle Ewigkeit.
    Als sie den Reißverschluss ihres Plastikbeutels mit den für Flüge zugelassenen Fläschchen bis 100 ml Inhalt zuzog, fragte sich Karen, ob sie schon jenseits der Liebe war, ob sie schon so ziemlich alle Gefühle empfunden hatte, die sie je zu empfinden erhoffen durfte, und ob jetzt nur noch Wiederholungen kämen. Sie fragte sich: Was ist einsamer – ein einsamer Single sein oder einsam in einer toten Beziehungleben? Ist es wirklich so lächerlich, als einsamer Single jemanden zu beneiden, der in einer toten Beziehung einsam ist? Ich komme mir vor wie die Pointe zu einem Witz, den ich vielleicht vor zehn Jahren selbst erzählt hätte.
    Was war aus ihrer anfänglich so guten Laune geworden? Eigentlich hätte sie den Göttern der Liebe fröhliche Weisen in die Ohren pfeifen müssen, doch stattdessen fühlte sie sich nun mannlos und im Stich gelassen, während sie an ein Leben immerwährender Arbeit, ein paar Tausend weiterer Mikrowellenmahlzeiten und schließlich den Sarg dachte. In was für eine Abwärtsspirale war sie da geraten? Sie schrieb es ihrer Nervosität wegen des Dates mit Warren zu.
    Am Frühstückstisch musste Karen feststellen, dass Casey sich ausgerechnet diesen Morgen ausgesucht hatte, um eine noch extremere Version ihrer schwarz-blauen Frisur vorzuführen: ein Set blauer Haarverlängerungen, die ihren Schopf noch mehr aufbauschten und sein Volumen verdoppelten. Doch Karen würde sich nicht in einen Streit um Stilfragen verwickeln lassen. Nicht heute. Nicht über einer Schüssel Haferbrei.
    »Wie findest du meine neue Frisur?«, fragte Casey.
    »Großartig. Sehr schön«, antwortete Karen.
    »Sie ist Teil meines Plans, unsterblich zu werden.«
    »Wie das? Gib mir doch mal den

Weitere Kostenlose Bücher