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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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Unkraut überwuchert. Die Straßen wirkten breiter als in meiner Erinnerung. Als wir am Berliner Dom vorbeikamen, spürte ich so ein komisches Kratzen ganz oben in meiner Kehle. Mein Gott, diese riesige Renaissancekirche war geschrumpft . Sie wirkte ängstlich, in die Ecke gedrängt, wie jemand, der einen steilen sozialen Abstieg erlebt hat.
    Chip legte eine große graue Tatze auf die Lehne meines Sitzes und beugte sich vor, als das Taxi in die Prachtstraße Unter den Linden abbog. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte er leise. 
    Ein unheimliches Gefühl stieg in mir auf. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, hatten sie die Linden, die der Straße
ihren Namen gaben, alle rausgerissen, dafür weiße Säulen aufgestellt und das Pflaster sandgestrahlt, damit sie mit ihren Schaftstiefeln nicht ausrutschten.
    Von alledem war nichts mehr zu sehen, als ob es nie gewesen wäre. Das Wiedererkennen, genauer gesagt: das Halb-Wiedererkennen, war wie ein Schock, und ich erinnerte mich plötzlich, weiß der Teufel warum, an den Abend, als ich meine Mutter in ihrem Sarg hatte liegen sehen. Als ich mich über sie gebeugt hatte, war mir ihr Gesicht zuerst wie immer erschienen, es strahlte eine vertraute Ruhe aus, aber dann bemerkte ich eine Spur von etwas, das fremd war, ein Wasserzeichen, das der Bestatter hinterlassen hatte. Vielleicht war es der Ausdruck der Lippen. Als ob sie im Sterben eine neue Art von Ironie kennengelernt hätte, eine Verachtung dessen, was sie hinter sich ließ.
    »Das ist nicht unser Berlin, Sid«, sagte Chip.
    Ich schluckte. Irgendwie funktionierte meine Stimme nicht richtig.
    Chip legte mir die Hand auf die Schulter. »Das ist die Zeit, Mann. Sie macht alles kaputt.«
    Ich nickte. »Irgendwas ist verlorengegangen. Und ich wette, dass kein Mensch sich erinnern kann, was es war.«
    »Außer uns. Außer uns beiden.«
    Ich sagte nichts.
    Chip lehnte sich wieder zurück. »Genau darum geht es bei dieser Reise, Sid.«
    Ich warf einen Blick über die Schulter auf Chip. Er hatte seine großen Hände zwischen die Oberschenkel gesteckt, sein schicker Anzug hatte keine einzige Knitterfalte. »Du gibst nicht auf, was?«, sagte ich. »Du willst mich unbedingt rumkriegen.«
    Er grinste. »Na ja, es nutzt alles nichts, das ist mir klar. Du willst nicht nach Polen.«
    »Stimmt genau.«
    Er lachte.
    Aber irgendwas lief verkehrt. Selbst im Westin Grand Hotel an der Friedrichstraße besserte sich meine Stimmung nicht. Ich lag in dem dunklen Zimmer, die Samtvorhänge zugezogen, auf einem Bett von der Größe eines Banketttischs und kam mir vor, als atmete ich den kalkig trockenen Staub von Jahrhunderten.
    Mann, ich war so müde. Zu müde zum Schlafen. Ich hatte wieder deutsch gesprochen, als wäre es meine Muttersprache. Komisch, dachte ich, wie so eine Sprache sich im Geist festsetzt, nicht auszurotten. Ich streckte mich der Länge nach aus und ließ die Luft aus meinen Lungen strömen. Das Zimmer war ganz in Creme- und Beigetönen gehalten, alles so blass und bleich, als sollte man möglichst nichts davon sehen, als wäre man von Leere umgeben.
    Die Stille verschluckte mich. Mir war, als wäre ich in Watte oder Moos gepackt. Ach, Berlin, unsere schöne Berolina, wie mit Kohle gezeichnet sah sie aus. Was war das für eine Stadt nach dem ersten Krieg. Und wir waren alle arm, und wir brannten darauf, zu erfahren, was das Leben zu bieten hatte. Ich kam erst spät dorthin, erst 1927, aber, Mann, war Berlin schön. Hunderte von Typen, mit denen man sich zusammentun und Musik machen konnte. Jede Menge Mädchen.
    Jeder Schuppen fühlte sich berühmt an. Das Barberina, Moka Efti, Scala . Im Romanischen Café kamen die großen Geister der Zeit zusammen, tranken Bier und tauschten Gedanken aus. Ich sah dort Kästner und Tucholsky und sogar
Otto Dix. Vielleicht phantasierte Dix dort Alptraumszenen für seine Bilder, starrte abwesend auf sein Glas, wenn ihm was Neues einfiel. Dieses berühmte Bild der Tänzerin Anita Berber, ihr Haar und ihr Kleid rot wie zerfetztes Fleisch.
    Diese Berber. Wir kamen oft in der Weißen Maus zusammen, um sie tanzen zu sehen. Sie schlängelte sich halbnackt zwischen den voll besetzten Tischen hindurch und zerschlug auf dem Höhepunkt ihrer Show Champagnerflaschen auf den Köpfen von Zuschauern. Einmal auf dem von Fritz, und der war so hingerissen, dass er es kaum bemerkte. Ich erinnere mich, dass sie auch im Eldorado arbeitete, einem Schwulenclub, in dem es so finster war, dass man kaum die Bühne

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