Spieltage
Ich habe extra eine Zeitung gekauft, um unserem Trainer Dettmar Cramer sagen zu können: Ich war schon draußen, Zeitung kaufen. Aber ich war eben am nächsten Morgen immer einsatzbereit, als hätte es die Nacht nie gegeben, das ist der Unterschied, Winzlinger!
Aber warum Jara und Mirnegg so hart bestrafen? Du bist oft genug auch glimpflich davongekommen.
Und Heinz Höher reiste in der Erinnerung in ein anderes Berlin zurück, 21 Jahre war es her, es gab schon zwei deutsche Staaten, aber noch keine Mauer, noch keinen Schießbefehl. Die zwölfte Klasse des Carl-Duisberg-Gymnasiums war 1958 auf Klassenfahrt in Berlin, und er sollte vorzeitig zurückgeschickt werden, weil er nachts ausgebüxt war. Der Lehrer hatte sogar schon die Zugfahrkarte gekauft. Doch dann wurde ein Mitschüler krank, der Blinddarm, der Junge musste nach Hause. Der Lehrer gab ihm die Fahrkarte, die für Heinz Höher vorgesehen war. Er durfte bleiben. Das war in Berlin gewesen. Sollte er das nicht als Zeichen nehmen?
Am nächsten Morgen sagte Heinz Höher, also gut. Jara und Mirnegg durften bleiben. Aber sie mussten ihm schriftlich versichern, dass keine Disziplinlosigkeit mehr vorkomme, sonst sei eine Strafe von 5000 Mark fällig. Heinz Höher trug den Zettel mit ihrer Ehrenerklärung wochenlang bei sich. Er hatte das Gefühl, dass er das Papier verwenden würde, und wusste nur noch nicht, für was.
Doch es schien eher die Zeit für andere Zettel, seine gelben Gebetszettel. Zum Beginn der Rückrunde im Januar 1980 steckte der MSV chronisch im untersten Viertel der Bundesligatabelle fest. Dies war angesichts des zusammengeflickten Spielerkaders keine Überraschung. Aber der Blick für die Realität geht in der Hitze des Abstiegskampfes meistens als Erstes verloren. Heinz Höher war angespannt, weil die Mannschaft immer wieder solche dummen Fehler machte, die Spieler waren gereizt, weil der Trainer immer distanzierter auftrat. Das Präsidium war nervös, weil die Zeitungen Fragen stellten, die Zuschauer wurden aggressiv, weil sie Heinz Höhers defensive Taktik für ängstlichen Fußball hielten. Und sie alle träumten davon, dass, irgendwie, alles gut würde.
Am 2. Februar 1980 ergatterte der MSV Duisburg durch ein Tor sechs Minuten vor Spielschluss ein 2:2-Unentschieden beim Tabellenzehnten Bayer 04 Leverkusen, in Heinz Höhers Heimat. Die Erleichterung überwältigte ihn. Er gab Kurt Jara den Zettel mit der Ehrenerklärung zurück.
Die Geste musste sein Spielmacher zu schätzen wissen, die Großzügigkeit würde ihm Kurt Jara im Abstiegskampf der kommenden Wochen zurückzahlen.
Am nächsten Samstag im Heimspiel gegen Schalke 04 fand Jara nie in die Partie. Die gesamte Duisburger Mannschaft spielte ohne Rhythmus, Thomas Kempe misslang ebenso viel im Mittelfeld, aber Heinz Höher sah immer wieder Jara, der mit dem Pass zögerte, der sich nicht von seinem Gegner löste. Als Schalke nach einer Stunde das 1:2 schoss, dachte Heinz Höher einen Moment, wenn du ihn jetzt auswechselst, geht das ganze Theater, die Pfiffe und die Rufe, wieder los, lass es lieber. Aber dann dachte er: Du bist schon am Ende und merkst es nicht, wenn du aus Angst vor dem Publikum Entscheidungen nicht triffst, von denen du überzeugt bist. In der 69. Minute meldete sich der Stadionsprecher. »Spielerwechsel beim MSV Duisburg: Für die Nummer zehn, Kurt Jara, kommt Gregor Grillemeier.«
Komisch, in Bochum hatte er die Pfiffe und »Höher raus!«-Rufe nie wahrgenommen. Am folgenden Montag hatte er in der Zeitung gelesen, dass es sie gegeben hatte, aber er konnte sich nicht entsinnen. Er musste so in das Spiel vertieft gewesen sein. Am 9. Februar 1979, Grillemeier war für Jara im Spiel, hörte Heinz Höher kaum noch etwas anderes. »Höher raus, Höher raus, Höher raus, Höher raus, Höher raus!«
Auf der Pressetribüne wurde getuschelt: Wie kann er, 1:2 im Rückstand, abgerutscht auf einen Abstiegsplatz, den einzigen Mann auswechseln, mit dem sich noch Hoffnung auf einen genialen, erlösenden Moment verband? Er schaufelt sich sein eigenes Grab.
Doris Höher flüchtete in ihr Auto. Die Toilettenwände reichten nicht mehr. Sie schob sich Wattebällchen aus dem Schminketui in die Ohren und machte sich, um sich abzulenken, eine Liste, was sie alles für die traditionelle Weibernacht zu Hause in der Bonhoefferstraße in Bochum besorgen musste. Die Spielerfrauen des VfL Bochum würden alle kommen.
Mit dem Abpfiff, 1:2 verloren, war Heinz Höher schon auf dem Weg in die
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