Spieltage
Der 1. FC Köln hatte 1976 als erster Bundesligist das Unglaubliche getan und eine Million für einen Fußballer gezahlt, den Belgier Roger van Gool. Eine Million stand für die großen Träume, für absoluten Reichtum. 1979 hatte das Wort viel von seinem Zauber verloren: Millionenablöse, Millionenschulden waren in der Bundesliga alltägliche Begriffe geworden. Und das, obwohl viele Bundesligisten realistischerweise nicht mehr als fünf Millionen Mark an Einnahmen im Jahr erwarten konnten.
Zurück in Meiderich blieben Ronnie Worms Eltern, und ihr Anblick weckte, tief im Innersten, das Gefühl, etwas stimme nicht mehr, wenn jetzt schon ihr Sohn in einer beliebigen norddeutschen Stadt spiele. Die Eltern führten seit 1969 das Vereinsheim des MSV.
Mit der zertrümmerten Mannschaft, die er in Duisburg vorfand, versuchte Heinz Höher, die Zeit anzuhalten. Er griff auf die Methoden zurück, die ihm in Bochum in den Siebzigern im Abstiegskampf so oft geholfen hatten: Er spielte, weil er nach Ronnie Worms’ Verkauf keinen Torjäger mehr besaß, ohne Mittelstürmer, machte einen Jungen aus der Bezirksliga namens Thomas Kempe zum Drehpunkt des Spiels, zog den besten Fußballer, Bernard Dietz, als letzten Retter auf die Liberoposition zurück und redete wenig. Bis zum zehnten Spieltag schlug sich der MSV wacker. Dann verlor er drei Spiele in Folge, unter anderem 0:6 in Frankfurt. Zu den Abstiegsrängen waren es nur noch zwei Punkte.
Wenn er in Bedrängnis geriet, fand Heinz Höher, trat seine große Stärke zutage. Er wurde eiskalt. Er sah und entschied hart und klar. Seine Spieler fanden, er wurde eisig.
Im Heimspiel gegen Bayer 05 Uerdingen am 24. November 1979 mussten sie den Abwärtstrend stoppen. Das vorletzte Training vor der Begegnung fand ohne Bernard Dietz statt. Er hatte mittwochs mit der Nationalelf in Tiflis gegen die Sowjetunion gespielt und würde donnerstags erst um 21 Uhr wieder in Düsseldorf landen. Die zwei österreichischen Nationalspieler des MSV, Kurt Jara und Hans-Dieter Mirnegg, landeten nach ihrem Europameisterschafts-Qualifikationsspiel gegen Portugal um 13:30 Uhr. Aber zum Training um 15 Uhr waren auch sie nicht da.
Österreich hatte gegen Portugal 2:1 gewonnen. Das Bankett der Österreicher nach dem Spiel hatte bis drei Uhr nachts gedauert. Das Donnerstagstraining in Duisburg lief eine halbe Stunde, als Jara und Mirnegg auftauchten.
Wann seid ihr gelandet?, fragte Heinz Höher ohne Begrüßung.
Um halb zwei.
Jetzt ist es halb vier! Ab in die Kabine, ihr könnt gleich wieder nach Hause gehen.
Der säuerlich stechende Geruch, der sich 1963 wochentags stets über das Trainingsgelände an der Westender Straße gelegt hatte, war verschwunden. Die Abgase bei der Stahlproduktion in der Phoenixhütte, die mittlerweile Mannesmann-Röhrenwerk hieß, stiegen 1979 gefiltert, fast geruchlos, in die Luft.
Sie seien nach der Ankunft nur schnell nach Hause gefahren, um etwas zu Mittag zu essen, verteidigte sich Mirnegg. Eine warme Mahlzeit werde ihnen der Trainer wohl noch zugestehen.
Am nächsten Tag verkündete Heinz Höher, Jara und Mirnegg seien für das Spiel gegen Uerdingen gestrichen. Alle Wege zum Tor des Gegners führten beim MSV über Jara.
Unter Heinz Höhers Vorgänger Rolf Schafstall durften die Nationalspieler wohl am Tag nach einem Länderspiel dem Training fernbleiben, aber bei ihm gab es kein Divenrecht, er hatte den Österreichern ausdrücklich gesagt, sie sollten nach ihrer Rückkehr pünktlich sein, es war an der Zeit, dass er Jara disziplinierte, mit Spielern, die sich was rausnahmen, konnte er nichts anfangen, wenn er das schon hörte: ein Spieler mit Ecken und Kanten. Wenn er das einen Fußballer sagen hörte, »ich bin ein Spieler mit Ecken und Kanten«, dann wusste Heinz Höher doch schon, was für ein Fußballer das war: ein Arschloch.
Horst Leroi, der MSV-Reporter der Neuen Ruhr Zeitung, schrieb: »Den Trainer kann man verstehen, denn immerhin steht es nicht zum Besten um die Mannschaft«, da könne sich niemand Disziplinlosigkeiten erlauben.
Nach 18 Minuten führte der MSV gegen Uerdingen 2:0. Die Elf kompensierte Jaras fehlenden Samtpässe durch Fleiß und Wucht. Nach 34 Minuten hatte Uerdingen zum 2:2 ausgeglichen. Die Zuschauer auf der überdachten Haupttribüne, wo die Eintrittskarte 25 Mark kostete, warfen mit Stadionprogrammen. Einer stimmte an, und viele schrien mit: »Höher raus!« Aus der Stehplatzkurve, wo blau-weiße Strickschals an den Trennzaun geknotet
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