Spieltage
Konzentrationslager gegründet. Die Sieger sperrten die Deutschen in ihr eigenes Gefängnis. Die Betten hatten keine Matratzen. Jeder bekam eine Decke. Dettmar Cramer konnte wählen, ob er sich damit gegen die Sprungfedern oder die Kälte schützte. Für 75 Mann gab es ein Waschbecken. Zum Essen brachte man ihnen morgens Suppe aus Tulpenzwiebeln, mittags Brot aus Tulpenzwiebeln. Nach sechs Monaten, es war März 1946, wurde Dettmar Cramer aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Seine Finger waren blau. Er hatte 42 Grad Fieber. Er wog noch 45 Kilo. Halb besinnungslos hielt er einen Milchwagen an, der ihn mitnahm. Er schlug sich nach Dortmund durch, nach Hause. Er fand ein ausgebranntes Haus, keine Mutter, keinen Vater, Bruder. Jemand erkannte ihn, Dettmar Cramer, den ehemaligen Jugendauswahlspieler, und sagte, Lippstadt sucht einen Trainer.
Teutonia Lippstadt suchte einen Sportlehrer, es war 1946, man wollte, man musste so tun, als ob das Leben weiterginge. Dettmar Cramer erhielt ein Zimmer bei der Vereinskassiererin und 250 Mark Monatslohn. Das Pfund Butter kostete 40 Mark. Er trainierte vier Tage die Woche die Fußballer, Leichtathleten, Boxer, alle Sportarten, alle Mannschaften, alle Altersklassen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Als seine Fußballer das Derby gegen Borussia Lippstadt gewannen, warf jemand die Scheibe seines Zimmers ein. Er schützte sich mit Pappe gegen die Kälte.
Wie sollte er Nein sagen, wenn Völker, gegen die Hitler ihn in den Vernichtungskrieg geschickt hatte, ihn nun für einen generösen Lohn baten, ihnen das Fußballspiel zu erklären?
In Saloniki trafen sich Dettmar Cramer und Heinz Höher gelegentlich und diskutierten über das neue Bild des deutschen Fußballs. Ein Foto fand 1981 auch in ausländischen Sportzeitungen Platz: Bielefelds Stürmer Ewald Lienen saß im Gras des Bremer Weserstadions, und seine Hände schrien. Er hielt sie ausgestreckt in die Luft, seht her, schrien sie. Sein rechter Oberschenkel war von oben bis unten aufgeschlitzt. Bremens Norbert Siegmann war beim Kampf um den Ball von vorne mit den Stollen voraus in ihn gerutscht. Beim nächsten Mal packst du ihn richtig!, habe Bremens Trainer Otto Rehhagel seinem Verteidiger zugerufen, behauptete Lienen.
Das brutale Foul, das abschrecken sollte, war vom ersten Tag an in der Bundesliga eine alltägliche Taktik gewesen. Fehden wurden per Revanchefoul geklärt und abends bei zwei Bier und einem Klaren verklärt, Männersport, sagten die Verteidiger. Aber führte die neue Leidenschaft für Athletik und Muskeln zu ungekannten Exzessen? »Wenn wir die brutale Entwicklung der letzten Woche nicht stoppen«, schrieb Eintracht Braunschweigs Präsident Hans Jäcker in einer Anweisung an seine Mannschaft nach Lienens Foul, »werden die Zuschauer euch als primitive Treter abschätzen und in der Nähe der altrömischen Gladiatoren ansiedeln.«
Dann kam die Weltmeisterschaft 1982. Horst Hrubesch bestellte im Trainingslager 20 Spiegeleier hintereinander, um mal den Koch zu testen, Deutsche und Österreicher schoben schamlos den Ball hin und her, weil es beiden zum Aufstieg in die zweite Runde half, Harald Schumacher schlug Frankreichs Patrick Battiston bei einer Flanke, fern des Balls, zwei Zähne aus und verkündete, »unter Profis gibt es kein Mitgefühl, aber ich zahle ihm die Jackettkronen«. Die Protagonisten der neuen Generation deutscher Fußballer, Mitte bis Ende der Fünfzigerjahre geboren, der Kriegsschutt war bereits weggeräumt, die Wirtschaftswunderjahre waren schon da, traten selbstbewusst, hemmungslos erfolgsorientiert und ohne Interesse auf, wie ihr Wirken im Ausland aufgenommen wurde. Im Kino lief Rambo.
Im Exil in Griechenland nahm Heinz Höher das lauter werdende Gerede vom hässlichen Deutschen nur gedämpft wahr. Hier war er der verehrte Lehrmeister, hier blieb er der gute Deutsche. Mit Dettmar Cramer konnte er über die neue deutsche Wucht nicht reden. Der war schon wieder weg. Bayer Leverkusen hatte ihn gerufen, die Bundesligaelf zu übernehmen. Hätte Bayer nicht auch an ihn denken können, den ehemaligen Leverkusener Stern? Heinz Höher holte seine Familie nach Saloniki. Sein Posten bei PAOK schien stabil zu sein, er hatte das erste Spieljahr auf Platz drei der griechischen Liga beendet. Er schien länger in Saloniki bleiben zu können und zu müssen.
Sie verbrachten die Nachmittage am Strand, grillten Fisch, allein in der Ferne war die Familie enger denn je, sagte Doris den Verwandten am
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