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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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Sepp Maier war in Duisburg von Wildgewordenen gar zu Boden geschlagen worden. Fußball war der Proletensport in einer Gesellschaft, in der kaum noch jemand Arbeiter sein wollte. Die Deutschen, die seit 20 Jahren den Fortschritt als natürlichen Zustand erlebt hatten, die das »Die Kinder sollen es mal besser haben« zum höchsten Gebot erhoben hatten, träumten von Bürojobs in weißen Hemdkragen für alle. In Bochum schlossen die letzten Zechen.
    Und während viele auf ihren Lieblingssport herabsahen, spielten die deutschen Fußballer, die vermeintlichen Schmuddelkinder der Nation, mit einer fesselnden Eleganz. Der Sieg der Nationalelf über England im EM-Viertelfinale im April 1972 in Wembley wurde in den Rang eines Mythos gehoben: Die deutsche Elf, die in den Augen der Deutschen stets so angestrengt und verbissen, so deutsch gewonnen hatte, siegte in Wembley, der Heimat des Fußballs, mit frischer Leichtfüßigkeit. Aus der Tiefe der Defensive war in Wembley immer wieder Franz Beckenbauer mit exquisiten Pässen und Dribblings aufgetaucht. Weil jedoch Günter Netzer mit seinen langen Haaren viel mehr als Beckenbauer die Sehnsucht nach einem neuen, mieffreien und lebensfrohen Deutschland verkörperte, machte die höchste Instanz für Überhöhung der Bonner Republik, das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen, Netzer zum Mann, der in Wembley aus der Tiefe des Raums gekommen sei und einen neuen deutschen Fußball geboren habe.
    Die beste und die schlechteste Zeit: Wie viele Deutsche lästerten freitagabends auf dem Hausball des Nachbarn über den Fußball, diesen Proletensport, und schauten samstags um 18:10 Uhr enthusiastisch die Sportschau? Wie viele Deutsche schimpften im Büro auf diese geldversessenen Profifußballer und tauften ihre Katze zu Hause in glühender Verehrung Grabowski oder Heynckes?
    In dieser paradoxen Fußballzeit versuchte der VfL Bochum seinen Platz in der Bundesliga zu zementieren. Neunter war der VfL – noch unter Trainer Eppenhoff – in seinem Debütjahr in der Ersten Liga geworden. Aber VfL-Präsident Ottokar Wüst war nicht traurig, dass ein Angebot des VfB Stuttgart für Eppenhoff eintraf. So sah es nach einem natürlichen Abgang aus. Wüst wollte einen Trainer mit frischen Ideen. Er dachte nur an einen.
    Heinz Höhers Empfang in Bochum war, für einen Trainer, standesgemäß. Er wurde schon kritisiert, bevor er überhaupt seine Arbeit aufnahm. »Hat die Mannschaft genug Respekt? Hat Höher genug Distanz?«, fragte der neue Sportchef der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Bochum, Heinz Formann, als Höher im März 1972 als Trainer für die nächste Saison vorgestellt wurde. Heinz Höher war erst 33, der jüngste Trainer der Bundesliga. Für einige Spieler beim VfL war er zwei Jahre zuvor noch ein Kollege, ein Kartenbruder gewesen. Doch, ehrlich gesagt, ging es Formann gar nicht so sehr um solch objektive Zweifel. Er war einfach persönlich beleidigt, dass sein Freund Hermann Eppenhoff nicht mehr Trainer in Bochum sein durfte.
    Jetzt fängt der Formann schon wieder an, dachte sich Heinz Höher, als er Anfang Mai beim Frühstück in der Kaulbachstraße die WAZ las. Die Höhers hatten, wie es sich gehörte, die Zeitung abonniert. Jeden Morgen, wenn sie aufstanden, lag sie bereits vor der Tür. Als müsse er die sportlichen Entscheidungen beim VfL treffen, plädierte Formann seit Wochen dafür, den Weltmeisterschaftsfinalisten von 1966 Lothar Emmerich zu verpflichten, der mit 30 mittlerweile bei KV Beerschot in Belgien den Herbst seiner Karriere erlebte. »Den Gegnern der Emmerich-Verpflichtung beim VfL fällt nichts sonderlich Überzeugendes ein«, schrieb Formann, »sie sagen: ›Wir wissen ja nicht, in welcher Verfassung Emmerich ist.‹ Wirklich nicht? Das ist aber schade. Das stand nämlich in fast jeder Zeitung. Und wer zweimal nach Dänemark fliegt, um einen Olson zu beobachten, der sollte auch nach Belgien kommen.«
    Dass Olson eigentlich Olsen hieß, war aus der Distanz schwer herauszufinden. Das wussten die Späher des VfL, die Olsen nach einem Tipp über drei Ecken beobachtet hatten, selbst nicht so genau.
    Heinz Höher legte die Zeitung beiseite. Er musste mit Wüst sprechen, wie sich Formann beruhigen ließe. Die erste Zeitung am Ort durfte er nicht gegen sich haben. Und Emmerich durfte auf keinen Fall verpflichtet werden. Heinz Höher hatte Angst vor in die Jahre gekommenen ehemaligen Starspielern. Sie waren in seinen Augen nur potenzielle Störenfriede. Beanspruchten einen

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