Spieltage
brach das Trainingsspiel zehn Minuten vor dem geplanten Ende ab.
Er hatte nie groß darüber nachgedacht, wie sich ein Trainer Autorität verschaffte. Er hatte stets angenommen, er habe einfach Autorität.
Heimlich sehnten sich die jungen Spieler wie Hermann Gerland nach ein paar aufbauenden Worten vom Trainer, nach ein paar persönlichen Tipps. Doch Heinz Höher schwieg gerne. Er dachte lieber alleine über den Fußball nach, als darüber mit seinen Spielern zu reden.
Nach Braunschweig zum Auftaktspiel der Bundesligasaison 1972/73 fuhr Heinz Höher mit der Taktik, die zwei Drittel der Liga pflegten: Die Heimspiele musste man unbedingt gewinnen, auswärts musste man versuchen, zu überleben und vielleicht ein Unentschieden zu ergattern. Sie würden dicht verteidigen, sich in jeden Zweikampf werfen, laufen, laufen, laufen und irgendwann, im besten Fall, bei einem Konterangriff vor dem gegnerischen Tor stehen.
Was Heinz Höher vorschwebte, war ein klarer, puristischer Fußball. Einfache Pässe, schnelle Pässe, saubere Pässe. Dann wurde aus Einfachheit Schönheit. Was er nicht gebrauchen konnte, waren Spieler, denen mal extravagante Dribblings gelangen, die mal mit einem genialen Pass die gegnerische Abwehr teilten, die aber mit diesen Dribblings und Geniuspässen beim nächsten Mal hängen blieben und einen gefährlichen Konterangriff fabrizierten. Was für ein Typ Spieler sie selbst einmal waren, vergessen die meisten, sobald sie Trainer werden.
Mit dem Auge eines jungen Trainers, der glaubte, jedes Detail sei entscheidend, saugte Heinz Höher in Braunschweig alles auf. Das Hotel lag an der Langen Straße, einer der Hauptadern der Stadt, darauf musste er in Zukunft achten, dort herrschte zu viel Lärm. Der Salat wurde, wie es sich für Sportler gehört, wie vorher per Fax im Hotel bestellt, ohne Gurken serviert. Aber es gab zu wenig Fleisch. Sportler brauchten Fleisch. Die Braunschweiger wärmten ihren Torwart schon vierzig Minuten vor Spielbeginn, zehn Minuten vor dem Rest der Elf, auf, hochinteressant, das musste er sich durch den Kopf gehen lassen.
Über die Braunschweiger Elf wusste er natürlich sehr wenig. Die Gegner in der Nähe von Bochum kannte er halbwegs, aber eine Mannschaft aus der Ferne wie Braunschweig war immer eine Unbekannte. Vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr, wenn sie gegen Bayern, Mönchengladbach oder Köln spielte, war sie im zehnminütigen Spielbericht in der Sportschau oder im Sportstudio zu sehen, aber da ließ sich kaum ein Bild machen.
Heinz Höher hatte eine Idee. Dieter Fern, der mit ihm in Bochum gespielt hatte, lebte nun nahe Braunschweig, in Salzgitter. Er kannte den Gegner vielleicht.
Heinz Höher spielte mit dem Gedanken, Michael Lameck, den Jungen aus der Regionalliga, gegen Braunschweigs Torjäger Bernd Gersdorff zu stellen. Aber nachdem Dieter Fern ihm versicherte, Gersdorff sei nicht außergewöhnlich schnell, verwarf Höher diese Sonderbewachung. Lameck würde im Mittelfeld spielen.
Michael Lameck war unter ihm bei Schwarz-Weiß Essen ein Außenstürmer gewesen, der kaum Tore schoss. Was Höher fasziniert hatte, war, wie viele gegnerische Angriffe Lameck unterband, weil er den ballführenden Abwehrspieler sofort attackierte und ihm den Ball raubte. Dieser Stürmer würde ein guter Defensivspieler sein.
Lamecks linkes Bein war 1,5 Zentimeter kürzer als das rechte. Damit dies nicht ins Gewicht fiel, hatte er sich einen speziellen Laufstil angeeignet. Wenn er mit dem rechten Fuß auf dem Boden aufsetzte, streckte er das rechte, längere Bein nie ganz durch. So waren beide Beine ungefähr auf einer Höhe.
Lameck hatte erst mit 17 angefangen, im Verein Fußball zu spielen. Seine Mutter hatte es aus religiösen Gründen nicht gestattet. Sie war Zeugin Jehovas. »Ata« riefen ihn die Freunde zu Hause in Essen. Er war beim Bolzen nach der Schule immer so wild über den Fußballplatz aus schwarzen Kohlestückchen geschlittert, er war immer so schwarz nach Hause gekommen, dass er vermutlich nur noch mit dem Scheuermittel Ata sauber zu kriegen war. Als ihm Heinz Höher anbot, ihn nach Bochum, in die Bundesliga, mitzunehmen, kündigte Ata Lameck seinen Posten als Fernmeldetechniker und fuhr ganz alleine zwei Wochen an den Königssee in den Urlaub. Er sah es als sein persönliches Trainingslager. Er lief jeden Tag, er absolvierte Sprinttrainings und spielte alleine auf einem verlassenen Fußballplatz in Berchtesgaden. Er startete Dutzende Dribblings um unsichtbare Gegner und
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