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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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nächster Nähe wie ungleiche Spiegelbilder in die Augen sahen. Ihr Rücken war leicht gekrümmt, als stünde sie im Begriff, ein Ohr ans Schlüsselloch zu legen, das knöchellange, transparente Nachthemd wehte im Lufthauch, und die schwarzen Haare, elektrostatisch aufgeladen von Kissen und Schlaflosigkeit, standen einzeln in die Luft. Zwei Finger meuterten und begaben sich auf die Suche nach einer Stelle am Rücken, an der sie kratzen konnten. Der ganze Anblick schmerzte Ada wie ein körperlicher Angriff.
    »Alev braucht dringend ein Bio-Buch«, sagte sie. »Über das Paarungsverhalten der Wirbellosen. So war es doch? Du betreibst Malakologie?«
    Letzteres war ins Telefon, nicht zur Mutter gesprochen, die sich umwandte und den Flur hinunterging. Ada hielt Wache, bis die Toilette verstummt und die Mutter wieder in ihrem Zimmer verschwunden war.
    »Einleitend möchte ich anmerken«, sagte Alev, als Ada ins Bett zurückgekehrt und Ruhe eingetreten war, »dass es mir leid tut.«
    »Höre ich richtig? Das muss die erste Entschuldigung deines Lebens sein.«
    »Möglich. Behalten wir das historische Datum als Nacht des ersten Males im Gedächtnis.«
    »Odetta hat nie zuvor gevögelt?«
    »Auch das ist möglich.«
    »Und die Finger, mit denen du das Telefon hältst, riechen nach ihrem Geschlecht?«
    Alev schnupperte hörbar.
    »Ich habe mir die Hände gewaschen. Außerdem wird mir nicht klar, was dein weinerliches Geschwätz von Odetta mit meinem Anruf zu tun hat. - Ada?«
    Sehr zur ihrer eigenen Überraschung hatte sie zu heulen begonnen, wälzte sich vom Rücken auf die Seite und presste das Telefon ans Ohr, als wäre es die letzte Verbindung nach draußen, ein schmales, beständig schrumpfendes Fenster zur äußeren Welt. Lass mich nicht allein, schrie es in ihren Ohren, ohne dass sie wusste, wer sprach und zu wem. Sie packte sich selbst an der Kehle, so dass am anderen Ende der Leitung kein Laut, nur das Stocken der Atmung und ein gelegentliches Keuchen zu hören waren.
    »Verschwindet für ein paar Minuten!« Alev redete mit den anderen. »Setzt euch zusammen auf die Couch im Fernsehraum. Das wird euch gut tun. - Ada!«
    Lange schwiegen sie. Die Stille wurde unterbrochen vom Klicken eines Feuerzeugs, als Alev eine Zigarette anzündete. Ausgeatmeter Rauch strich rauschend über die Rezeptoren. Als er weitersprach, war seine Stimme weich geworden, wickelte Ada ein und wiegte sie wie etwas Zerbrechliches. Kleinchen, das darfst du nicht. Du bist hart und kalt. Tu mir das nicht an. Du bist doch nicht wie die anderen.
    Sie roch gut, diese Stimme, nach dem eigenen Körper, als man noch ein Kind war, nach gebrauchtem Kopfkissen und dem Stück Raufasertapete neben dem Heizungsrohr. Wie Soldaten marschierten die Silben über Adas Trommelfell, bis sie einzusinken begannen, eine Armee im Moor, eine Armee im Ohr, du bist nicht wie die anderen, du gehörst doch zu mir, und als sie eingedrungen waren, ließ Ada alle Waffen fallen und beruhigte sich.
    »Die Nerven. War ein bisschen viel in den letzten Tagen. Dazu die kalte Jahreszeit«, sagte sie ironisch.
    »Schon gut«, sagte Alev fröhlich. »Schön, dass du wieder da bist. Ich rufe wegen des Gefangenendilemmas an. Kannst du dich an Delahaye und Mathieu erinnern? Ich gab dir ihren Artikel.«
    »Natürlich kann ich mich erinnern.«
    Jetzt klang Adas Stimme völlig normal, vielleicht ein wenig sauberer als sonst, und die Gedanken erzeugten ein eigenes, melancholisches Nebengeräusch.
    »Wunderbar.« Alev schien bestens gelaunt. »Könntest du die wesentlichen Inhalte zusammenfassen?«
    »Was ist das? Ein Examen?«
    »Genau. Ein spieltheoretisches Examen.«
    »Ich werde tun, was du willst, aber diesmal erklärst du mir ausnahmsweise, warum.«
    »Warum - oder zu welchem Zweck?«
    »Warum.«
    »Ich verteile Rollen, und du musst die Regeln kennen.«
    »Die Rollen von Gott und Teufel?« »Ich bereue es, diese anachronistischen Begriffe in deiner Gegenwart gebraucht zu haben. Wörter dürfen niemals zu Zeitmaschinen verkümmern. Schon gar nicht, wenn sie uns in eine Epoche vor Nietzsche zurücktransportieren.«
    »Vor das homo est deus?«
    »Ada, ich liebe deine Schnelligkeit.« Er wurde immer lauter vor Begeisterung. »Nur die Langsamen der Erkenntnis meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntnis.«
    »Das ist doch auch von Nietzsche?«
    »Naturellement. Nietzsche ist unser Urgroßvater, dessen Erbe wir noch heute verprassen.«
    »Ich verstehe immer noch nicht, was das Begriffs-Mikado

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