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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erblickte er ein zweites Gesicht einen Meter hinter dem ihren. Erst schien es in der Luft zu schweben wie eine Halluzination, dann manifestierte es sich oberhalb des lederbezogenen Rückens eines Gymnastikpferds. Konzentriert, auch hier die Augen halb geschlossen, aber den Blick nicht ins Leere, sondern auf die Rückseite eines silbernen Kästchens gerichtet, dessen Vorderseite von einem einzelnen, gewölbten Glasauge beherrscht wurde und genau auf Smuteks Körpermitte zielte. Smuteks Schrei erschreckte ihn selbst. Er brach über Ada zusammen. Alev sprang auf, presste das Kästchen an die Brust und rannte um Barren und zusammengeschobene Recks herum, quer durch die Halle und an der anderen Seite hinaus. Auf Straßenschuhen mit Ledersohlen, das konnte Smutek hören.
    Er raffte seine Kleider vom Boden, presste sie vor seine Blöße wie ein Junge, der beim Nacktbaden im Stadtteich überrascht wird, und lief zurück in die Lehrerumkleide. Beim Duschen produzierte er Dampf für einen ganzen nebligen Wintermorgen und bemerkte nicht, wie Ada hereinkam, ihre Sachen holte und wieder verschwand. Als er aus der Dusche stieg, war er allein in der großen Sporthalle mit ihrer sieben Meter hohen Decke. Er stellte sich unter einen Basketballkorb und schrie, bis er glaubte, man müsse ihn auf der Straße hören können. Die hellblauen Matten zeigten nicht den geringsten Abdruck.
    Schläfrigkeit ist ein Geruch
    S chläfrigkeit ist ein Geruch, nach dem eigenen Scheitel, ganz leicht nach Hausstaub und erhitzten Glühbirnen, nach Dunkelheit, Buchseiten und Raufasertapete. Wenn dieser Duft erst die Lungen, dann den Kopf, schließlich Bauch, Arme, Beine bis in die Finger- und Zehenspitzen erfüllt, verjüngt man sich innerhalb weniger Herzschläge ums eigene Lebensalter, liegt wieder im Gitterbettchen, krümmt die Hände ineinander, umklammert den eigenen Brustkorb, winkelt die Beine an oder streckt sie möglichst weit von sich, bemüht, die einzig richtige Haltung zu finden, fruchtwasserfreundlich, schwebetauglich, wenn auch nicht unbedingt praktisch oder gesund. Der Schlaf hingegen ist eine Farbe, schwarzrandig, aber nicht schwarz, in die wir hinter geschlossenen Lidern starren, nachdem die Augen umgekippt sind, um den Kopf von innen zu betrachten.
    Seit zwei Tagen spürte Smutek vergeblich dem Geruch der Schläfrigkeit nach. Weil er den Chemieschlaf seiner Frau nicht länger neben sich ertrug, war er auf die Couch im Wohnzimmer umgezogen. Wegen überreizter Erstickungsangst, die das Nachdenken mit sich brachte, stand das Fenster offen, und die ausgekühlten Laken seiner provisorischen Bettstatt rochen nach Koriander, Waschpulver und erkaltetem Schweiß. Smutek konnte nicht schlafen. Seine Gedanken stellten die Welt auf den Kopf, lösten Fragen, mit denen Körbe voller Denker sich jahrhundertelang beschäftigt hatten, vergaßen die Antworten wieder und schlurften, eben noch schwungvoll und elegant, als kleine Kinder auf metallenen Rutschpantoffeln einher. Smutek sagte sich, dass er hier am Fenster die Welt zu bewachen habe, die nach Meinung der Philosophen nur in der Vorstellung der Menschen existierte und sich deshalb auflösen musste, wenn einmal alle zur gleichen Zeit schliefen. Smutek schaute auf die geronnene Straße, in die kahlen Kastanienkronen eines unwirtlichen Monats März, zählte die Spiegelungen von Laternen auf Autodächern, wartete darauf, dass ein Passant vorbeikäme und sich durch seine Kleidung nicht als Schichtarbeiter, sondern als ein Kollege in Sachen unfreiwilliger Nachtwache ausweisen möge. Aber draußen war niemand. Alle Fenster waren ausgeknipst, die Menschen schliefen in ihren Zimmern wie in schuhkartonförmigen Waben, aufgestapelt zu etwas, das >Stadt< genannt werden wollte, und das Einzige, was es einmal pro Stunde zu hören gab, war das bestialische Geschrei zweier Katzen, die für den Frühling trainierten.
    Anfangs hatte er geglaubt, die Schlaflosigkeit sei Ausdruck eines Bedürfnisses nach freier Zeit, mit der er tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Er befand sich in einem Vorstadium des Reagierens und brauchte Zeit, um nachzudenken. Mit lautem Knall war ein Spielbrett vor ihm niedergegangen und zeigte nicht mehr als eine Ausgangsposition. Smutek hatte Schwarz. Es blieb nichts zu tun, als auf den ersten Zug des Gegners zu warten. In der ersten Nacht am offenen Fenster versuchte er, sich zu einer angemessenen Reaktion zu zwingen. Er hielt sich vor Augen, dass sein Leben im Begriff stand, vollständig

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