Spieltrieb: Roman
nicht in freien, öffentlichen Diskursen, sondern in möglichst verregelten und repressiven Denksystemen. Ada hatte nichts gegen Freiheit, es war nur so, dass das Internet sie langweilte. Kaufen Sie. Gucken Sie. Klicken Sie.
Ohnehin hätte es an diesem Nachmittag kein hektisches Flackern von Werbebannern gebraucht, um ihr die Laune zu verderben. Nach der Schule war sie vom waidwunden Blick der Mutter empfangen worden, die zur Großmuttergestalt gekrümmt am Esstisch saß. Ada, mein Kind, harte Zeiten stehen bevor. Mein Anwalt hat endlich. Die Scheidung.
Na und?
Mehr hatte Ada nicht zu sagen gewusst, aber es war ausreichend gewesen, um den Stöpsel aus dem immer vollen Reservoir an Sorgen und Kümmernissen zu entfernen. Alle Register wird er ziehen. Auch dich wird er bescheißen. Und dann die Richter. Versprich mir, dass du! Ich habe doch nur dich.
Alevs Fußspitze trat rhythmisch den Boden, als müsste der Computer wie eine altmodische Nähmaschine mittels eines Pedals in Gang gehalten werden. Neben ihm auf dem Tisch lag ein knittriger Zettel, geschrieben von fremder Mädchenhand, und von Zeit zu Zeit unterbrach er das Tippen, straffte das Papier mit einem Dreieck aus Fingern und beugte den Rücken wie ein Archäologe über einem hieroglyphenbedeckten Papyrus.
Ada rutschte noch ein Stück tiefer in den Stuhl und spürte, wie ein Lächeln ihre Gesichtsmuskulatur entspannte. Was machen zwei Gefangene vor Gericht? Sie hauen sich gegenseitig in die Pfanne. Im Grunde war das Scheidungsverfahren eine Art Anschauungsunterricht. Hauptsache, sie würden die Schulgebühren für Ernst-Bloch in die Unterhaltsregelung aufnehmen.
»Jetzt guck doch mal!«
Mit einem Ruck zog Alev ihren Stuhl zu sich heran, nah, noch näher, bis der Bildschirm ihre beiden Köpfe vom Rest des Raumes trennte. Die Startseite der offiziellen Homepage der Schule füllte das Fenster zur Zwischenwelt. Alevs Arm lag um ihre Schultern, sein Mund presste sich auf ihr rechtes Ohr, er roch an ihrem Haaransatz, ich hab dich vermisst, sein Flüstern ein Rauschen, seit Höfis Tod hatten sie nicht miteinander gesprochen.
Hinter der Wand hatte Olafs Bass eingesetzt, die Schüler rückten ihre Kopfhörer zurecht. Alev neigte den Oberkörper am Bildschirm vorbei und rief ein kräftiges »Heil Hitler!«. Niemand rührte sich, kein Blick glitt ab, keine Hand fuhr zum Ohr. Sie grinsten sich an: Okay. Wir sind allein.
Seiner Aktentasche entnahm Alev die Kamera und ein Kabel. Beim Anblick des silbernen Kästchens wäre Ada am liebsten rückwärts gerannt wie ein scheuendes Pferd. Ausgerechnet gegen den harmlosen Apparat empfand sie Widerwillen, während sie Smutek bei lockerer Kehle und entkrampftem Magen in die Augen geblickt hatte. So nichtssagend und flüchtig hatten sie einander angesehen, dass Ada zu zweifeln begann, ob sie wirklich beide an dasselbe dachten.
Unter gerunzelter Stirn verband Alev die Rückseite des Geräts mit dem USB-Anschluss. Dreißig Bilder flatterten in ein frisch angelegtes Verzeichnis.
»Willst du sie sehen?«
»Nein«, sagte Ada sofort.
»Wenn du gar nichts sehen willst, geh nach Hause. Es lässt sich nicht vermeiden, die ausgewählten zu öffnen.«
Ada sagte nichts und blieb sitzen. Drei der jpg-Dateien berührte Alev mit dem Mauspfeil und benannte sie um.
»Gut«, sagte er, »jetzt präparieren wir das Versteck.«
Er förderte eine Diskette zutage, schob sie ins Laufwerk und installierte ein kleines Programm. In die freien Felder des Session Profiles übertrug er Angaben, die er von seinem Zettel ablas. Host Name: Ernstbloch.de, Host Type: Automatic Detect, User ID: wiederum Ernstbloch.de.
»Und jetzt kommt's. Das hat mich tagelange Arbeit gekostet. Siehst du das?«
Am unteren Rand des Zettels stand eine sechsstellige Kombination aus Zahlen und Buchstaben, jede Stelle säuberlich in ein Kästchen des karierten Papiers notiert.
»Was ist das?«
»Ein FTP-Passwort.«
»Freie Technokratische Partei?«
»Nein. File Transfer Protocol. Es transportiert Dateien auf einen Server oder holt sie von dort ab. Eine Postkutsche auf dem Datentrampelpfad.«
»Du willst mit den Photos auf die offizielle Homepage der Schule?«
»Kleinchen, habe ich dir jemals gesagt, dass du unglaublich schnell bist?« Ein entzündliches Lächeln aus Mund- und Augenwinkeln. »Das Internet hat der Teufel erfunden, es ist genau seine Kragenweite. Informationen, Sex, Erkenntnis. Hätte es das schon vor fünfhundert Jahren gegeben, wäre Gott bereits mit
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