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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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pulverisiert zu werden. Das Dreigestirn aus Arbeit, Familie, Wohnung blähte sich zu einer Supernova und konnte in jedem beliebigen Moment explodieren. Trotz aller Bemühungen schaffte er es nicht, Angst oder Verzweiflung zu empfinden. Er fühlte sich besser als je zuvor, und wenn er an Ada dachte, jauchzte etwas in ihm >Noch einmal! Noch einmal !<, mit der schrillen Stimme eines Jungen, der vom Kettenkarussell zu den Eltern zurückkehrt. Vielleicht lag es am Schock.
    Von ferne musste das Ereignis auch sein Schneewittchen erschüttert haben, dass es das Apfelstück aushustete und sich augenklimpernd aus dem gläsernen Sarg erhob. Kaum zu Hause angekommen, hatte Smutek sich mit feuchten Haaren gleich zum zweiten Mal unter die Dusche gestellt, und als er sich das heiße Wasser bei geschlossenen Augen über das Gesicht laufen ließ, wurde die Milchglastür der Kabine geöffnet. Seine Frau trat neben ihn. Der Schreck durchfuhr ihn, sie war so mager geworden. Dann begriff er, dass Adas Volumen den Raum zwischen seinen Armen erweitert hatte und sein zartes Schneewittchen jetzt zu viel Platz darin fand. Die Wärme des Wassers und die Kälte der Badezimmerluft verschweißten sie zu siamesischen Zwillingen. Sie klammerten sich so fest aneinander, als hätte eine äußere Kraft sie zu trennen versucht.
    Am Sonntagnachmittag gelang es endlich, ein paar Stunden zu schlafen. Als er die Augen aufschlug, saß eine Fee auf der Sofakante, berührte seine Wange und ließ, ihm zunickend, das lange Haar über seine Brust wischen. Smutek wusste sogleich, auf was er drei freie Wünsche verwenden würde. Er wollte das letzte Jahr zurück. Er wollte, dass sie die vergangenen Monate zurückspulte, löschte und ihm das leere Band zur Verfügung stellte, damit er es erneut bespielen konnte. Wie ein Kind am Geburtstagsmorgen ein großes Glück vorausahnt, ohne noch ganz zu begreifen, worum es sich handelt, wusste Smutek, dass seine Fehler getilgt werden würden. Er schenkte der Fee ein Lächeln, das in der Lage war, Steine in Gold zu verwandeln.
    »Schön, dass er dir besser geht«, sagte die Fee. »In den letzten Wochen warst du zurückgezogen wie ein Kranker, der einen verbissenen Streit mit der eigenen Schwäche führt.«
    Z wlasn^. slabosci^.. Hatte sie schon immer in dieser weichen, nasalen Sprache zu ihm gesprochen? Gab es diese Sprache überhaupt noch, oder war sie tot wie Latein, eine Erkennungsmelodie vergangener Epochen, zu Mathematik geworden, eine Sprache, in der man rechnete statt zu reden? Dann begriff er den Sinn ihrer Worte und wurde wach.
    »Krank? Ich?«, fragte er. »Ich dachte, dir sei es schlecht gegangen?«
    »Das ist etwas anderes«, flüsterte sie und legte eine kühle Hand auf seine Stirn. »Jedenfalls geht es dir besser, und das freut mich. Ich koche uns einen Tee.«
    In der dritten Nacht am Fenster waren die klugen Gedanken verbraucht, sie schmeckten schal wie mehrfach aufgebrühte Teebeutel in lauwarmem Wasser. Die Selbsterkenntnis näherte sich auf plumpen Füßen. Smutek fragte sich plötzlich, wie alt er sei. Ein Junge, der den Rock einer älteren Mitschülerin lüpft? Ein Greis, der auf einer Parkbank sitzt und kleine Mädchen beim Radschlagen beobachtet? Er befand sich irgendwo in der Mitte. Ihm wurde flau. Erregung und Erlösung, Aufregung und Auflösung hoben sich gegenseitig auf, eine einstündige Liebschaft annullierte eine zwanzigjährige Lebschaft und umgekehrt, alles stürzte zusammen, fiel übereinander und blieb liegen wie tot. Smutek besuchte den Garderobenspiegel im Flur und blickte hinein wie ein Gaffer in die Trümmer einer Massenkarambolage. Er kannte niemanden, der dort verstorben war. Danach stützte er keuchend die Ellenbogen auf die Fensterbank, sog gierig kalte Luft in die Lungen, als gälte es, eine innere Brandblase zu kühlen, brach Atemzüge ab, um nach dem nächsten zu schnappen, und kämpfte gegen das Ersticken wie ein Fisch in destilliertem Wasser.
    Dann kehrte Ruhe ein. Das Erschrecken über das Nichts hinterließ nichts - nicht mal Erschrecken. Jetzt wollte er schlafen. Er fühlte sich zehn Jahre älter, abgeklärt, enthoben, unerreichbar für die Welt und ihre kleinlichen Racheakte. Nach zwanzig Minuten warf er die Bettdecke wieder von sich und sprang von der Couch. Er ertrug die Berührung des Stoffes nicht auf der Haut, die Polster misshandelten seinen Rücken, die Augenlider gingen auf wie an Gummischnüren gezogen.
    Wenige Stunden später kontrollierte Smutek auf dem Weg zum Auto

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