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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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bist Pole. Du kommst aus einem anderen Universum und wirst niemals verstehen.«
    Ein Zwinkern, ein Augenreiben, sie war verschwunden, und auch von Alev fehlte jede Spur.
    Smutek trat aus der Turnhalle ins Freie und erwartete, dass Dunkelheit gefallen sei und die Stadt vertilgt habe, diese kleine, unschuldige Stadt, die an den Ufern des wiedervereinigten Landes gestrandet war, sich tapfer in der Brandung wiegte und vorgab, einen seligen Tanz aufzuführen. Ein bisschen Nacht hätte gut zu seiner Stimmung gepasst, er fühlte sich friedlich und versöhnt wie nach einer großen körperlichen Leistung. Er wollte ein paar Schüler unter dem Glashäuschen der Bushaltestelle sehen, reglos im orangefarbenen Licht wie Fliegen in Bernstein. Aber es war noch hell. Frühlingshaftes Vogelgezwitscher trotz kalter Luft. Autos eilten geschäftig vorbei, Kinder hüpften an den lang gezogenen Armen ihrer Mütter. Smutek wollte nicht gleich nach Hause, ging um das Schulgebäude in den Park und lehnte sich über die Begrenzungsmauer. Links und rechts von Ernst-Bloch schauten die Kleinstadttempel ehemaliger Botschaften aus leeren Fenstern über den Rhein. Das verlassene Regierungsviertel, aller Bannmeilen beraubt, drückte sich in die Kniekehle des Flusses. Dahinter die Lichter des Zentrums, Kneipen, Geschäfte, Museen, Universität. Alles sprach vom Glück verflossenen Ruhmes, der alle Aufregung und Geschwätzigkeit mit sich genommen hatte.
    Smutek schaute in die schmutzigen kleinen Wellen und befragte sich sorgfältig darüber, ob er nicht den Gehorsam hätte verweigern müssen, um das Spiel zu beenden, bevor es richtig angefangen hatte. Nach einer Weigerung hätte das Material in Alevs und Adas Händen nur noch den Gegenwert einer Rache besessen. Sie hätten entscheiden müssen, ob sie ihn und sich selbst in sinnloser Bestrafung vernichten oder ablassen wollten von dem, was sie so aufwendig begonnen hatten. Er war lang genug Lehrer und Kind des Kalten Krieges gewesen, um zu wissen, welch komplizierte Übung das Drohen mit gegenseitiger Auslöschung darstellte. Die Mechanismen der Abschreckung mussten in ein empfindliches Gleichgewicht aus Einschüchterung und Einlenkung gelagert werden. Das war etwas für Fortgeschrittene, während Ada und Alev draufgängerisch auf die Macht ihrer Waffen und auf Smuteks Gefügigkeit vertrauten. Sie waren unerfahren. Oder bedingungslos radikal. Smutek gestand sich ein, dass er seine Widersacher nicht einschätzen konnte. Vielleicht traf zu, was Ada ihm seit Monaten zu erklären versuchte. Sie waren Vogelfreie. Desperados ohne Wilden Westen. Guerillas ohne Krieg.
    Zu allem Überfluss quälte ihn ein absurdes Verantwortungsgefühl, der Wunsch, ihnen nichts zuleide zu tun, sie sogar davon abzuhalten, sich selbst zu beschädigen. Er fühlte sich wie ein Vater, der vom eigenen Sohn mit dem Küchenmesser bedroht wird und erleben muss, dass gutes Zureden keine Wirkung mehr zeigt. Er sah Alevs breitmäuliges Gesicht und die geschlitzten Augen vor sich, empfand keinerlei Freundschaft, sondern einen neugeborenen, nackten, aufs Wachsen begierigen Hass, und kam dennoch nicht über die Feststellung hinaus, dass er den Größten Anzunehmenden Unfall nicht wollte. Er versuchte, ins Wasser zu spucken, schaffte es aber nur bis zur unteren Reihe der Befestigungssteine.
    Sein Volvo wartete allein auf dem Parkplatz und begrüßte ihn auf Schlüsseldruck mit zutraulichem Blinken. Smutek setzte sich ans Steuer und klappte den Innenspiegel herunter, so dass er sich während der Fahrt in die Augen sehen konnte. Er war glücklich, ein Auto zu haben. Er war glücklich über seinen Job. Er war glücklich, in dieser Stadt zu leben, die seinem Schneewittchen so gut gefiel. Er war glücklich, nach Hause zurückkehren zu können, zu einer Dusche, einem gefüllten Kühlschrank, zu rotem Wein und einer weichen Couch. Er war zufrieden mit seinem Leben und nahm dabei an, dass es nicht viele Menschen auf der Welt gab, die das von sich behauptet hätten. Er wollte keine Veränderung.
    Der erste schöne Tag im Jahr. Ada freut sich auf einen Auftritt vor Gericht
    D ie Sonne brüllte wie ein zahnloser Tiger vom Himmel, schoss Licht ohne Wärme in die Straßen der Stadt, blendete wintertrübe Augen, holte Staub und zerknüllte Taschentücher unter den Heizkörpern hervor, verhöhnte die schamlose Nacktheit kahler Bäume und Büsche, entdeckte Fettfingerspuren auf Windschutzscheiben und bewarf die Fenster der oberen Stockwerke mit explodierenden

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