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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Blitzen. In den Rheinauen, die den Innenstadtbereich vom Stadtteil Godesberg trennten und durch die manch ein Scheidungsrichter bei schönem Wetter mit dem Rad zur Arbeit fuhr, begann der Himmel unmittelbar über dem Boden, an den Rändern mit Lichtnebel aufgefüllt. Hinter einer Hecke sang eine dünne Mädchenstimme auf Englisch etwas von der Liebe, sie steckte im Radiogerät eines Lieferwagens. Männer in blauer Baumwolle beschnitten die Büsche. Der erste schöne Tag im Jahr war eine Finte des Sommers, der heuer nicht stattfinden würde, und glich mehr einer Phototapete als einem wirklichen Morgen.
    Ada war soeben aus dem Bett gekrochen und stand vor dem Badezimmerspiegel. Das Strahlengewitter traf sie von links. Obwohl der Gerichtstermin auf elf Uhr dreißig lag, hatte sie den ganzen Tag schulfrei nehmen dürfen. Immerhin kam ihr in dem bevorstehenden familiären Staatsakt eine Sprechrolle zu. Der lange Schlaf hatte ihr Gesicht gepolstert, Lippen, Augenlider und Nasenflügel schimmerten wie kleine Kissen, und das grelle Licht machte die Haut weiß und wächsern, als hätte noch kein Ausdruck von Freude oder Schmerz es gewagt, diese Miene zu berühren.
    Die Momente, in denen Ada das eigene Aussehen erträglich fand, waren selten, streng rationiert und mussten für ein langes Leben reichen. Aus geistiger Eitelkeit verzichtete sie darauf, mit Puder, fettigen Cremes und Farben dem Unerreichbaren hinterherzumalen, da unterlassene Versuche leichter zu ertragen waren als ständiges Scheitern. Sie war weder zur Künstlerin noch zur Kämpferin geboren, es blieb die Laufbahn einer Dulderin.
    Hätte sie sich eine Form von Schönheit aussuchen können, wäre ihre Wahl auf die Gestalt eines Kätzchens gefallen, das auf krummen, gestreiften Beinen die sechzig Quadratmeter seiner Parkett-, Teppich- und Kachelwelt erkundet und sich von jeder aufgefundenen Staubfluse begeistern lässt wie von der Entdeckung einer neuen Welt. Oder sie hätte ein Pferd sein wollen, das die graue Nase gegen den Wind stemmt und eine Steppe durchmisst, die allein dem Geräusch seiner Hufe gehört. Die Tatsache, dass wahre Schönheit mit Selbstvergessenheit zu tun hatte, passte zum seltsamen Humor des Schöpfers: Jene, die sie besaßen, wussten nichts damit anzufangen, während alle, die etwas davon verstanden, niemals in ihren Besitz gelangten. Einst hatte auch Ada ohne Gefühl für Zeit und Raum im Staub eines sonnenwarmen Kieswegs gesessen und Steinchen hin und her geschoben. Einst war sie auf eine Art über Wiesen gerannt, die jedem verständigen Menschen das Herz brechen konnte. Aber die Selbstvergessenheit galt es abzugeben am Ausgang der Kindheit, sie wurde einem irgendwo auf der Schwelle zum angeblich echten Leben heimlich weggenommen, und dieser Moment war nicht einmal von einem der blutgefleckten Taschentücher markiert, die sonst an allen wichtigen Stellen des menschlichen Lebens lagen wie Lesezeichen in einem dicken Buch. Bald nach den ersten kindlichen Verständnisschritten, die sich noch an den Sicherheitsleinen der Logik entlanggetastet hatten, war Ada aufgefallen, dass das System des Denkens einen Fehler enthielt. Man konnte es nicht anhalten. Verstehen funktionierte wie Atmen. Ada beantwortete Fragen, bevor sie gestellt wurden, das Verstehen war kein Vorgang, es war ein Zustand, um nicht zu sagen eine Krankheit. Die wenigen Dinge, die sich nicht begreifen ließen, gewannen den Stellenwert von Heiligtümern, sie waren Indizien für die Existenz eines letztverbliebenen Zufluchtsorts. Alev und ihre Reaktion auf ihn gehörten in diese Kategorie. Verstehen war schlecht für den Teint.
    In den seltenen Momenten, worin Ada vor einem Spiegel ihrer Zwillingsschwester hinter Glas mit Zuneigung begegnete, stellte das Großhirn seine Arbeit ein, Weltsicht und Selbstsicht sanken in sich zusammen wie das Dach einer luftgetragenen Tennishalle nach Abschalten des Gebläses. Schräg standen die Sonnenstrahlen. Ada wurde von einem Weltall aus glitzernden Staubkörnchen umtanzt. Das Gesicht im Spiegel war ein gerahmtes Gemälde an der Kachelwand und sah aus, als wollte es in der nächsten Sekunde zu sprechen beginnen.
    Das Geräusch einer ins Schloss krachenden Tür im unteren Stockwerk trat dem Zauber des Augenblicks den Schemel weg. Ada griff nach der Zahnbürste. Unter der Dusche legte sie den Kopf in den Nacken, dass die vom Wasser gestreckten Haare sich über den Rücken legten, als wären sie wirklich lang, eine zum Flattern geschaffene

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