Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Mähne.
    Zwanzig Minuten später stand sie in der Küche und war schon wieder stecken geblieben. An der Wand über dem Mülleimer hing ein Kalender zwischen verjährten Einkaufszetteln, Urlaubspostkarten und Kinoprogrammen und zeigte den August 2003, dazu einen Leuchtturm, weiße Vögel und Wolken wie frische Daunenkissen am Horizont. In einer Ecke des Blatts stand ein merkwürdiger Spruch: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Aus irgendeinem Grund hatte niemand mehr daran gedacht, das Kalenderblatt umzuschlagen, und so hing der Monat immer noch dort, als wäre an einem schönen Augusttag die Zeitrechnung stehen geblieben, die Welt untergegangen und die Menschheit ausgestorben. Der Anblick entsetzte Ada. Wie viele Tage mussten sich ansammeln, bis Zeit sich zu Geschichte verdichtete und andere Denkmäler erbauen ließ als dieses armselige Zufallsmonument über dem Mülleimer in einer viel zu großen Chrom-und-Marmor-Küche? An einem Tag ebendieses vergangenen Monats war sie Alev zum ersten Mal begegnet. Sie nahm den Kalender vom Nagel, drehte ihn um und hängte ihn mit dem Gesicht zur Wand. Sie hatte an Sisyphos nie anders als an einen Idioten denken können. Ada beschloss, Frühstück zu machen.
    Die Mutter saß mit einer Tasse löslichen Kaffees ohne Milch und Zucker über der Zeitung und hob überrascht den Blick, als die Tochter mit energischen Schritten den Tisch umrundete, aufgebackene Brötchen auf zwei Teller verteilte, Wurst, Käse und Marmelade in die Mitte schob. Ada trug ihr neuestes und sauberstes T-Shirt und hatte sich die Haare geföhnt, dass sie leicht und hell den Kopf umgaben.
    Während die Mutter ihr zusah, dachte sie an sich selbst. Für gewöhnlich schlich diese Tochter in groben Jeans durch die Wohnung, ein fleischgewordener Verrat an allen Bemühungen, ihr den Umständen zum Trotz ein Heim zu errichten. Ein Verrat auch an den günstigen Erbanlagen der Mutter, die sie im Schweiße ihres Angesichts an die Nachfahrin weitergegeben hatte. Der kräftige Lebensstrom, von dem ein Nebenarm heute die Tochter zu durchfließen schien, war nämlich die Grundsubstanz des mütterlichen Naturells, nur hatten ihn die Müllverbrennungsanlagen ihrer persönlichen Geschichte nach und nach mit giftigem Unrat verseucht. In Adas Alter hatte die ungewöhnliche Energie ihr ganze Reihen von Verehrern beschert, und in der Studentenzeit war kein Sommerwochenende vergangen, an dem sie nicht, vorauseilend wie ein junger Hund, durch sonnendurchflutete Wälder oder das hohe Gras an einem Flussufer gelaufen wäre, die schützende Anwesenheit eines netten Mannes im Rücken spürend. In ihrer Gegenwart fanden die Männer Ruhe von allen No-Future-Ideen, sie fanden Einheit in einer geteilten Welt. Die Mutter hatte sich den Besten erwählt und ihn an einen überflüssigen Unfall verloren. Er hatte Ada bei ihr zurückgelassen.
    Obwohl einmal verwitwet, neu verheiratet und in hoffentlich wenigen Stunden wieder geschieden, stand die Mutter noch immer vor dem Leben wie ein Kind vor den Terrarien im Zoo, an denen kleine Messingschilder mit lateinischen Namen auf Tiere hinwiesen, die man, Augen und Nase dicht am Glas, niemals zu sehen bekam. Es gab künstlich drapiertes Ast- und Blattwerk, ein Schälchen mit buntem Futter, ein kleines Holzhaus und eine Trinkvorrichtung. Die Mutter schaute und wartete, fest überzeugt, dass sich früher oder später etwas regen würde. Ada hingegen hatte sich beim Anblick der verlassenen Behälter sofort abgewandt, die Achseln gezuckt und wusste seitdem nur zu berichten, dass Leere regiere. Für die Mutter war Adas Leuchten am Scheidungsmorgen, die Art, wie sie um des schönen Anscheins willen in ein Brötchen biss, obgleich ihr anzusehen war, dass sie nichts essen wollte, eine solche Bewegung im Terrarium. Sie und ihre Tochter hatten ein gegensätzliches Verhältnis zum Nichts.
    Adas ungewohnte Körperspannung rührte vor allem daher, dass sie mit leicht gespreizten Beinen auf dem Stuhl saß und sich mühte, das eigene Gewicht mit den Ellenbogen auf der Tischkante zu tragen. Ihre Körpermitte hatte sich noch immer nicht an die neue Beanspruchung gewöhnt, und zu manchen Tagesstunden litt sie an dem unstillbaren Bedürfnis, mit einer Hand in die Hose zu fahren, um dem brennenden Juckreiz abzuhelfen. Als sie die Augen der Mutter ungewohnt intensiv auf sich ruhen spürte, sah sie auf die Uhr.
    Wir müssen.
    Hintereinander gingen sie über den Flur zur Garderobe, Ada

Weitere Kostenlose Bücher