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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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konnten einander nicht leiden. Aber natürlich war das Unsinn. Menschen konnten nichts anderes sein als Menschen. Sie zogen sich Roben an oder Handschellen und taten, was von ihnen erwartet wurde. In diesem Haus bestand ihre Aufgabe darin, den Phantomschmerz einer amputierten Werteordnung zu erzeugen.
    Die Männergruppe war verschwunden. Bitte schließen Sie die Tür! Ada wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Der Überschuss an Stühlen im Raum verbreitete den Eindruck, es gebe noch mehr Betroffene, die nicht alle zum Spektakel erschienen seien. Die klotzförmigen Tische, hinter denen Vater und Mutter mit ihren Anwälten saßen, boten Platz für drei weitere Personen, Ada belegte einen von dreißig Zuschauersitzen, und selbst hinter dem Richterpult waren links und rechts der rotlockigen Dame noch mehrere Sessel frei.
    Die Richterin sprach mit ihrem Diktiergerät. Die Klägerin stellt ihren Antrag aus dem Schriftsatz vom ..., ein kurzes Nicken zur Verständigung mit dem Anwalt der Mutter, der Beklagte beantragt, Moment, Sie wollen anerkennen, in welcher Höhe?
    Die Roben blätterten in ihren Akten, die helle Sonne draußen war fehl am Platz, es gab weder Vorhänge noch Jalousien, die alten Heizkörper gingen gleichmütig ihren Geschäften nach. Ada ertappte die Eltern dabei, wie sie hilflose Blicke tauschten. Gleich würden sie aufstehen, zu zweit aus dem Raum schweben, in dem die Juristen weiter blätterten und diktierten, um hinauszutreten auf die Straße ins gleißende Sonnenlicht. Dann fing sich das Geschehen, eine unsichtbare Souffleuse hatte das Stichwort getuschelt. Im Übrigen, sagte die Richterin, wird Klageabweisung beantragt.
    Man schickte Ada hinaus und bat sie wieder herein, die Eltern sahen ihr schuldbewusst entgegen. In den schwimmenden Augen der Mutter bemerkte sie Anzeichen für eine theatralische Szene, nehmt mir das letzte Hemd, aber lasst mein Kind aus dem Spiel, und sie schoss einen warnenden Blick zu ihr hinüber. Man wies Ada den Stuhl in der Mitte des Raums, sie wurde sanft belehrt, dass sie, wenn sie aussage, der Wahrheit verpflichtet sei. Anders als zu Zeiten des Schlagrings war Ada inzwischen strafmündig. Der Brigadegeneral zwinkerte komisch mit den Augen, offensichtlich wollte er ihr etwas sagen, das sie nicht verstand.
    »Erhalten Sie von Ihrem Stiefvater zum Monatsanfang eine regelmäßige Zahlung von vierhundertfünfzig Euro in bar?«
    Ada antwortete nicht gleich. Sie malte sich aus, Alev sitze hinter ihr auf einem der Zuschauerplätze, die Beine von sich gestreckt, den Mund zu einem ägyptischen Lächeln verzogen, und kratze mit den langen Fingernägeln leicht über den Stoff seiner Hose. Seit zwei Wochen umarmte er sie und küsste sie auf den Mund, wenn sie sich morgens begrüßten, und das in aller Öffentlichkeit.
    »Der Moment der Wahrheit ist immer jener, in dem man überhaupt nichts versteht«, sagte sie.
    Die Richterin hob ihre gezupften Augenbrauen und sah zum Anwalt des Brigadegenerals hinüber, den sie anscheinend lieber mochte, vielleicht wusste er besser Bescheid über die Welt, auch wenn er jetzt die Schultern zuckte.
    Ada legte den Kopf in den Nacken und lachte, das hätte Alev gefallen, es hätte irgendeine seiner Theorien bestätigt. Weil sie gerade dabei war, lachte sie auch vor Freude darüber, dass es ihn gab, und gleichzeitig lachte sie sich selbst aus, weil sie hoffte, dass er sich an sie gewöhnen möge wie an ein Haustier, das für einen kurzen Zeitraum in Pflege genommen wird und so schnell ans Herz wächst, dass man sich nicht mehr trennen kann. Sie lachte auch über den Schmerz zwischen ihren Beinen, der ihr allein gehörte und ein Geheimnis war, zu dem sie >ich< sagen konnte. Und sie lachte aus Überzeugung, dass gerade die schönste Zeit ihres Lebens begann. Es dauerte eine Weile, bis sie fertig war und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, schwarz und schweigend umringt von den Geistern der übrigen Anwesenden, die ein treues Zirkuspony inmitten der Manege verrückt werden sahen.
    »So was hast du ihnen erzählt?«, sagte Ada. »Du bist mir ja einer.«
    »Das soll wohl heißen, dass Sie keine Zahlungen empfangen?«
    Das Wort >empfangen< erinnerte sie daran, dass sie dringend einen Termin beim Frauenarzt brauchte.
    »Nichts dergleichen. Tut mir leid.«
    »Ihre monatlichen Beiträge auf ...«, Aktenblättern, »... Ernst-Bloch sind seit einem halben Jahr nicht entrichtet worden. Ihr Vater gab an, dass das Schulgeld eigentlich in den

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