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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schlachtfelder, die von den Überlebenden längst verlassen wurden.«
    »Nicht uninteressant«, sagte die Richterin höflich, »aber ich muss Sie bitten, dieses Schlachtfeld jetzt ebenfalls zu verlassen.«
    »Wenn Sie das nächste Mal zu Hause sitzen und am Sinn Ihres Berufes zweifeln, werden Sie an meine Worte denken.«
    »Bitte gehen Sie.«
    Ada zuckte die Achseln, winkte mit kleiner Hand der Mutter zu und legte dem Brigadegeneral auf dem Weg zur Tür zwei Finger auf die Schulter. Ein geräumiges Schweigen, in dem ein groß angelegtes Stimmengewirr ohne weiteres Platz gefunden hätte, begleitete ihren Abgang.
    Die Mutter kam erst am frühen Abend heim und war betrunken. Die Ponyfransen der Kleopatrafrisur hatten an Halt und Haarspray verloren und hingen viel zu lang in die Augen, die Wimperntusche war nach dem letzten Heulen nicht aufgefrischt, sondern endgültig entfernt worden, und auch vom Lippenstift war nur am Grund der feinen Längsfalten noch etwas übrig. Ada stand o-beinig und o-armig in der Küche und filetierte eine Tiefkühlpizza. Sie mochte es, wenn die Mutter sich beim Reden mit einer Hand am Türrahmen festhielt. Das war früher häufig vorgekommen, ein Zeichen der guten Zeiten.
    »Du bist glücklich, nicht?«, sagte die Mutter.
    »Bin ich. Willst du Pizza?«
    »Danke. Du fandest es heute nicht schlimm?«
    »Im Gegenteil. Du?«
    »Ich auch nicht. Weil du ... Ach, du weißt schon.«
    Die Mutter griff ihr mit einer Hand fest in den Nacken und schüttelte sie wie einen jungen Hund. Das war eine sportliche Geste, die nichts von der üblichen, ungesunden Zärtlichkeit hatte, die mehr Kampfmittel als ein Ausdruck von Zuneigung war. Ada drängte mit dem Pizzateller an der Mutter vorbei aus der Tür. Am Esstisch kaute sie Tomatensauce und Teig, während die Mutter Details der Verhandlung wiederbelebte, um sie anschließend zu beerdigen.
    »Und am besten«, sagte sie, kurzatmig vom Lachen, »war deine semiphilosophische Einlage am Schluss. So etwas hat die Lockentussi noch nie in ihrem Gerichtssaal gehört.«
    »Ohne Philosophie«, sagte Ada mit vollem Mund, »wagen nur Verbrecher, ihre Mitmenschen zu verurteilen. Die anderen legitimiert der Weltgeist.«
    Ihr war klar, dass die gute Laune der Mutter weniger von semiphilosophischen Erkenntnissen kam als von der Tatsache, dass der Brigadegeneral einen schwarzen Peter nach Hause getragen hatte, mit dem sich in Zukunft noch etwas anfangen lassen würde.
    »Es ist schön«, sagte die Mutter leise und goss Cognac ins Glas, »zu sehen, wie du erwachsen wirst.«
    »Du täuschst dich«, erwiderte Ada, gähnte und beschloss, dass die kommenden Worte die letzten sein würden, die sie an diesem Tag sprach. »Das Kamel war schon tot, bevor ich auf die Welt gekommen bin. Ich wurde als Löwe geboren, bin als Löwe groß geworden und werde als Löwe müde, lang vor der Zeit. Die Hoffnung, es zum Kind zu bringen, hat nie wirklich in mir gelebt.«
    Die Mutter verstand nicht, schob es auf die Pubertät und hörte nicht, wie Ada »Das-hat-mit-Nietzsche-zu-tun« murmelte, während sie den Raum verließ. Als die Mutter auf dem Weg zur Toilette, wo sie sich erbrechen wollte, noch einmal nach ihr sah, schlief sie fest und reglos. Ihr heller Kopf lag eingesunken in den Kissen wie ein großes Straußen-Ei in seinem Nest.
    Wenn ich Schriftsteller werden wollen
    würde
    W as folgte, waren die schönsten Wochen in Adas Leben. Ob es an Alev lag, der unverhohlen ihre Nähe suchte, an den wenigen, dafür kunstvoll gefertigten blaugrünen Frühlingstagen, die das Jahr 2004 für die Bonner Bürger bereithielt, an Smutek, den sie in Einzelheiten zu kennen begann wie ein Forscher seinen Untersuchungsgegenstand, oder an einer jener zufälligen Umstellungen der Körperchemie, die für einen beachtlichen Teil des menschlichen Glücks und Unglücks verantwortlich sind, während die Betroffenen gern von Schicksalswenden sprechen - das war nicht gewiss. Sicher war, dass Ada sich gut fühlte. Alle Kleidungsstücke im Schrank passten wie angegossen, das Frühstück schmeckte nach Frühstück, und die Haare waren lang genug, um mit einem Küchengummi zum blonden Pinsel gebunden zu werden, mit dessen gesträubten Borsten die Finger wunderbar spielen konnten. Mit dem ersten Griff ins neue Lebensgefühl hatte sie das richtige Wort am Genick: Unanfechtbarkeit. Das Geheimnis bestand darin, nichts weiter zu tun, als jene Fähigkeit zu genießen, mit der die Natur sie am großzügigsten ausgestattet hatte: die

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