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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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ein Zeichen handelte. Als sie ihm ins Ohr schrie, dass diese urbanen Menschen ihr Gewordensein gnadenlos ausstellten, während im bäurischen Polen jedermann bemüht sei, die Fingerabdrücke der Natur durch edle Stoffe, Parfüm und Kajal zu verdecken, wusste er nichts zu antworten, nickte freundlich und ging davon aus, dass sie über kurz oder lang einen etwas weniger verwahrlosten, naturverbundenen deutschen Mann kennen lernen und in ihrer eigenen Zukunft verschwinden würde. So war das Schicksal, und nach ein paar Bechern Bier war Smutek imstande, die kurze Wegstrecke zu genießen, für die man ihm dieses Mädchen ausgeliehen hatte. Er nahm sich vor, sie unversehrt und besenrein zurückzugeben, wie er sie bekommen hatte.
    Es wurde zwei Uhr. Sie hatten die Kleider durchgeschwitzt, und alles, was Haar war, klebte am Körper. Die Wanderung durch die Etagen hatte ihre Kräfte aufgezehrt. Mit zwei frischen Bechern Bier kamen sie in einem geräumigen Zimmer des ersten Stocks zur Ruhe. Lange schauten sie durch die verschlossene Balkontür hinaus. Auch am Haus gegenüber waren die Fenster erleuchtet, die Fassade glich einem Adventskalender, dessen Türchen alle bereits geöffnet waren. Das schnaufende, schiebende, trinkende Gesamtwesen in ihrem Rücken, mit dem man nur im Ganzen Freund oder Feind sein konnte, verlor für ein paar Augenblicke an Bedeutung.
    Als sie sich wieder umwandten, hatte ein Einzeltier sich aus der Herde gelöst, taumelte auf sie zu und stand vor ihnen, bevor sie auch nur einen Blick hatten wechseln können. Fast erwartete Smutek, der ganze Raum müsse sich nach ihnen umdrehen, als hätten sie plötzlich die Tarnkappen abgesetzt. Aber die Party kümmerte sich weiterhin um sich selbst und ließ sie mit ihrem Besucher allein. Der wirkte grob, wie aus Restteilen zusammengezimmert. Von oben schaute Smutek auf Kaskaden dunklen Haars, das im Licht der rot bemalten Glühbirnen glänzte.
    Ihr seid doch aus Polen?
    Frau Smutek antwortete in akzentfreiem Deutsch: Woher willst du das wissen?
    Sieht ein Blinder mit Krückstock. Immer wie aufm Stehempfang.
    Smutek bat um Übersetzung. Das nach rechts und links gleitende Gesicht ihres neuen Gesprächspartners wurde von einem Strahlen verbreitert, und er packte mit Wikingerpranken je ein nächstgelegenes Körperteil.
    Poland is good. Communism! Very good.
    Mit schnellem Seitenblick kontrollierte Smutek das Mienenspiel des ihm anvertrauten Schneewittchens.
    Communism ist nicht immer good, sagte er.
    Was hast du hier zu suchen, fragte die künftige Frau Smutek auf Polnisch, wenn du die Volksrepublik so unwiderstehlich findest?
    Der späte Einfall, in die gemeinsame Sprache zu wechseln, brachte den Wikinger zum Grölen.
    Hier ist einfach mehr los!, rief er. Aber am Ende geht doch nichts über die polnische Küche.
    Ukrainischer Borschtsch und russische Piroggen, höhnte das Schneewittchen, und Smutek schlug leise vor, nach Hause zu gehen.
    Der Wikinger hob seinen Becher und begann zu singen: Noch ist Polen nicht verloren! Marsch, marsch, Dabrowski, wir haben von Bonaparte gelernt.
    Halt's Maul, sagte das Schneewittchen.
    Der Wikinger sah sie aus glasigen Augen an, als hätte man ihm mit flacher Hand über den Mund geschlagen.
    Ist das deine Freundin?, fragte er Smutek.
    Nein, sagte dieser.
    Doch, sagte die künftige Frau Smutek. Wegen Russenhuren wie dir treiben wir uns auf versoffenen Kinderfesten herum.
    Der Wikinger lachte aus vollem Hals, hob seinen Becher, als wollte er anstoßen, und kippte Frau Smutek den Inhalt über die Brust.
    Und was bist du, rief er fröhlich, eine Nazinutte? Ein Deutschenmädel? Eine hitlerowiec?
    Alles ging schnell und leicht. Smutek packte den kleinen Mann am Kragen seines Armeeparkas, hob ihn an, dass das Gesicht fast im Stoff der Jacke verschwand, und stieß ihn rücklings gegen die Balkontür. Das Glas splitterte, der Wikinger verschwand. Hinter der Scheibe fehlte der Balkon. Von unten war das Klirren von Scherben und ein dumpfer Aufprall zu hören, als schlüge ein nasser Kleidersack auf harten Boden. Einige Gäste im Raum hoben die Becher und prosteten Smutek zu, der schwankend vor der zerbrochenen Scheibe stand. Scherben bringen Glück!, rief eine Frauenstimme. Dass ein Mensch fehlte, hatte niemand bemerkt.
    Auf einem Strom frischer Luft schwammen Smutek und das Schneewittchen in ein Meer aus Zuneigung, fanden sich inmitten eines Schwarms verwaschener Gesichter, die sie anredeten und grinsten, mach noch ein Fenster auf, das ist

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