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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gesund, während fremde Hände sie streichelnd und tätschelnd weiterreichten, in eine neue Welt, in ein neues Leben, nach Deutschland hinein und auf den Gang, wo sie zu laufen begannen, ins Treppenhaus, die Stufen hinunter. Auf dem Bürgersteig packte das Schneewittchen Smuteks Hand und zog ihn vom Gebäude fort. Nach zweihundert Metern hörte Smutek auf, sich zu wehren, und begann zu rennen. Sie liefen im Zickzackkurs über mehrspurige Rennbahnen, durch schweigende Hinterhöfe und dunkle Parkstücke, bis sie nicht mehr konnten, bis sich die künftige Frau Smutek hinter einer Bushaltestelle in ein zugeschissenes Gebüsch erbrach. Auf dem schmalen Lager ihres Studentenzimmers, unter Zbigniew Herberts Gedicht, fanden sie im Morgengrauen dieser verrinnenden Nacht zueinander.
    Ada und Alev schwiegen eine Weile. Der Wein war ausgetrunken, Ada nahm einen Schluck vom Gin und verzog das Gesicht.
    »Und dann?«, fragte Alev endlich.
    »Dann ist Smuteks Mutter von der Brücke gesprungen, weil man ihr erzählt hat, dass ihr Sohn im Gefängnis gestorben sei. Smutek hat seine Frau geheiratet, ist ein guter Deutscher und ein glücklicher Mann geworden. Um schließlich uns wie ein Fisch ins Netz zu gehen.«
    »Soll ich weinen vor Rührung, oder reicht es, wenn ich Beifall klatsche?«
    »Das Klirren dieser berstenden Balkontür muss ihm tief in die Seele gesunken sein.«
    »Wie viel von alldem ist wahr, und wie viel hast du dir ausgedacht?«
    »Das weiß ich nicht. Ich hab ihm immer nur mit halbem Ohr zugehört.«
    Alevs Miene war unbeweglich, eine Maske aus Ablehnung und Spott. Irgendetwas gefiel ihm nicht, die ganze Geschichte hatte ihm nicht gefallen. Ein Rad war stecken geblieben, und er suchte nach Worten, um es freizusetzen und anzuschieben. Adas Augen wanderten über seinen halb liegenden Leib, als ob sie ihn schätzen wollten, seinen Umfang und Inhalt, Qualität und Gewicht, um ihn mit einem anderen zu vergleichen.
    »Merk dir eins«, sagte Alev. »Zwischen Smutek und uns besteht nicht der kleinste Anflug einer Gemeinsamkeit. Das, wovon du mit so viel Begeisterung sprichst, ist eine Ausgeburt deiner eigenen Phantasie.«
    »Ich bin nicht begeistert«, sagte sie.
    Alev gab ein anzügliches Lächeln zurück. Langsam begann sie zu nicken, der Moment war nicht geschaffen für Widerspruch. Das letzte Stadium der Müdigkeit war überschritten, der Raum hatte an unangenehmer Klarheit gewonnen, zeigte Staub auf leeren Tischen, verschmutzte Lampenschirme und eingefallene Gesichter. Es war Zeit zu gehen. Alev legte ein paar Scheine auf die Theke, das Barmädchen begleitete sie vor die Tür. Am unteren Rand des Himmels schimmerte der Morgen.
    Das Licht kam, bevor ein Geräusch zu hören war, ein blauer Schein wie Wetterleuchten über der angrenzenden Häuserreihe, dann heulte ein Motor. Es war die Schwarzhaarige mit dem gefährlichen Pony, die Ada am Arm packte und zurück in den Hauseingang zog. Alev sprang mit einem Satz hinterher. Reifenquietschen, das Heulen einer Sirene zerschnitt die absterbende Nacht in Fetzen. Und Stille. Das Klicken eines Feuerzeugs, die Augen des Mädchens ölschwarz über der Flamme.
    »Relax«, zwitscherte sie. »If they drive like this, they mean somebody else.«
    Ada musste sich trotzdem setzen, Feuchtigkeit unter den Fingern, den Rücken an der Wand. Alev schaute zu ihr hinunter. Er lächelte, die Spuren des Schrecks lagen als Schatten auf seinem Gesicht, als hätte eine massive Ohrfeige seine Züge durcheinander gebracht. Sie waren eben anders. Sie waren Hauskatzen, die nicht gelernt hatten, im Dreck zu leben. Hätten sie es gelernt, wären sie besser in dieser Disziplin geworden als jeder andere. Komm, wir gehen nach Hause. Er half ihr auf.
    Take care.
    You too.
    Und es gab ein Zuhause, es war für alles gesorgt. Lange liefen sie Arm in Arm und in Schlangenlinien, die nicht daher rührten, dass der Planet sie von seinem Rücken zu schütteln versuchte, sondern allein daher, dass sie die längstmögliche Strecke bis zum Ankommen zurücklegen wollten. Sie erwachten in einem modrigen Bett, eingesponnen von den Fäden einer sich auflösenden Synthetikdecke, als wäre im Schlaf eine gigantische Spinne über sie gekrochen und hätte eilig versucht, einen Beutekokon anzulegen. Ada hatte die Nase zwischen Alevs Schulterblättern.
    Ada trifft den Brigadegeneral und lehnt sich ein Stück über den Rand des Abgrunds
    S ie fand es pathetisch, dass er im dunklen Vorgarten auf sie wartete. Sie hatte es pathetisch

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