Spieltrieb: Roman
erzählen konnte, war er ihr eingefallen. Wenn sie sich etwas gestattete, das sie sonst niemals tat, nämlich an die Zukunft zu denken, passierte das Gleiche. Smutek kam ihr in den Sinn. Sie konnte seine Wohnung sehen, die sie nicht kannte, und sie sah sich selbst durch diese Räume schreiten, die noch handwarm waren von den Berührungen einer geflohenen Ehefrau. Sie malte sich aus, wie sie mit einer Hand die leeren Kleiderbügel im Schrank beiseite schieben würde, um ihre wenigen Sachen daneben zu hängen. Wie sie morgens gemeinsam frühstückten und aufbrächen, jeder in eine andere Schule. Wie Smutek sie an den Abenden in Ruhe ließe, bis die tägliche Verzweiflung von selbst gewichen wäre und Ada sich ihm zuwenden könnte. Wie sie in eine bunte Decke gerollt mit einem Balzac auf der Couch läge, fernab von Badezimmertüren und Wannenrändern. Wie sie das Abitur erreichte und die Hochleistungsmaschine in ihrem Kopf an irgendeine Universität tragen würde, um, zum Beispiel, das Recht zu studieren. Das alles war ebenso leicht vorstellbar wie die Realität. Die Bilder im Kopf besaßen keinen geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad und waren nicht mehr oder weniger trügerisch als die gegenwärtige Situation. Falls Smutek, der im Gegensatz zu ihr an die Zukunft glaubte, in der gleichen Sekunde dieselben Bilder sah, würde er mit der Überzeugungskraft dieser Darbietung schwer zu kämpfen haben.
An der schräg abfallenden Betonrampe kamen alle Gedankengänge zum Erliegen. Unten lehnte Olaf am Metalltor und sah zu Ada hinauf, klein wie eine Heiligenfigur in einer zementierten Kapelle. Ihm war anzusehen, dass er eine Stunde lang auf sie gewartet hatte. Während sie mit pendelnden Hüften abwärts ging, schaute er immerfort hinter sie, als erwartete er das Auftauchen einer weiteren Person.
»Bist du allein?«
»Wie immer in splendid isolation.«
Der Abstand, in dem Ada vor ihm stehen blieb, war ein wenig zu weit für ein gewöhnliches Gespräch.
»Alles in Ordnung?«
»In bester Ordnung.«
Mit einem Ärmel seines Armeeparkas wischte er sich über die Stirn und schaffte es irgendwie, bei dieser Geste um jede Theatralik herumzukommen.
»Woher wusstest du, was passieren würde?« Ada hatte nicht erwartet, dass es ihr so viel Vergnügen bereiten würde, ihn zu sehen, und fand sich damit ab, dass sie in merkwürdiger Stimmung war. Olaf hob die Schultern.
»Jemand hat euch verraten.«
»Fürchtest du nicht, Alev könnte auf die Idee verfallen, du seiest das gewesen? Vielleicht hast du uns nachspioniert?«
»Hast du ihm gesagt, dass ich versucht habe, dich zu warnen?«
»Etwas zu sagen scheint auf diesem Nebenschauplatz nicht der gebräuchliche Weg der Informationsvermittlung zu sein.«
»Da könntest du Recht haben.«
»Falls du Ärger willst, kann Alev ohne Mühe ein paar Leute mobilisieren.«
»Das kann ich auch«, erwiderte Olaf.
Für ein paar Sekunden hielten sie inne und kosteten eine imaginäre Szene aus. In der späten Abenddämmerung näherten sich mehrere dunkle Gestalten von beiden Seiten der Schulhof-mitte. Die eine Frontlinie wurde von Alev, Grüttel, Bastian und Toni gebildet; hinter der zweiten Stellung materialisierten sich Olaf und die Ohren. Wie Duellanten aus der West Side Story standen sie sich wortlos gegenüber, bevor der befreiende Moment eintrat, ähnlich einem großen, lang anhaltenden Gelächter: Ein Ausbruch von Gewalt. Ada löschte das Bild. Sie wusste, dass Alev in der Lage war, eine erheblich größere Gruppe von Menschen auf die Beine zu bringen, und dass er anders vorgehen würde.
»Heißt das«, fragte Olaf schließlich, »dass ihr die Angelegenheit fortsetzen werdet?«
»Ich wüsste nicht, was diese Angelegenheit dich anginge.«
»Du wirst mich für rührselig halten, aber ich bin schon verdammt froh darüber, dass dir heute nichts passiert ist.«
»Hast du uns verpfiffen?«
»Glaub es oder nicht.« Wieder hob er die Schultern. »Ich bin es nicht gewesen. Nicht mal, um dich zu retten. Du weißt, dass ich Teuter nicht leiden kann.«
»Ich frage noch mal: Was geht dich das Ganze an?«
Er schaute zur Seite, hob beide Arme wie Jesus am Kreuz und schlug die Hände flach gegen die Wand.
»Sagen wir so, es stört mich, dass du dich verkaufst. Und wahrscheinlich wieder einmal ohne Gegenleistung. Jede Hure weiß, warum sie ihren Beruf ausübt - aus finanzieller Not, aus Zwang, zur Befriedigung einer Drogensucht. Du bist schlimmer als eine Hure, denn du bekommst nichts. Keinen Cent,
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