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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sprichst?«
    »Schön zu sehen, dass es Dinge gibt, die dich in Bewegung setzen.«
    Sie erwischte seine linke Hand mit ihrer Rechten und bohrte die Finger in das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger, fand den Nervenknoten und drückte zu. Früh hatte der Brigadegeneral ihr gezeigt, was er >die Griffe< nannte. Olaf schrie auf, gab in den Knien nach und merkte zu spät, wie ihre Hand ihm in die Jacke fuhr und unter der Achsel die Sehnen des Brustmuskels durch den Sweatshirtstoff erfühlte. Schon bei leichtem Druck begann er zu stöhnen.
    »Was willst du überhaupt?«, flüsterte er.
    »Ich will wissen, was deine Andeutungen zu bedeuten haben.«
    »Warum gehst du nicht am Donnerstag um siebzehn Uhr in den Physiksaal und schaust selber nach?«
    Ada stieß sich von ihm ab, geriet vom eigenen Schwung ins Taumeln und fand Halt am Metallgeländer neben der Rampe.
    »Entweder«, sagte sie, »du bist ein guter Stratege. Oder ein verdammter Idiot.« Eine Strähne klebte im Mundwinkel, sie atmete wie ein gejagtes Tier. Olaf schüttelte die Haare und band sich den Zopf neu zusammen.
    »Es hat sich gelohnt, dich aus der Ruhe zu bringen.«
    Sie machte kehrt, setzte einen Fuß vor den anderen und stieg die Rampe hinauf.
    »Ada!« Sie blieb stehen, ohne sich umzuwenden. »Ich habe dich geliebt. Damals!«
    Mit dem nächsten Atemzug füllte sie die Lungen bis zum Anschlag und presste sie zusammen wie einen Blasebalg.
    »Das«, schrie sie, »ist kein verdammter Liebesroman!«
    »Was ist es dann?«
    »Die Normalität.«
    Es war Mai, die Dunkelheit weigerte sich, um achtzehn Uhr fünfzehn zu fallen. Ada musste im Hellen nach Hause gehen, geduckt unterm Sonnenschein wie unter einem Regenschauer, die Hände in der Jeans, den Rucksack über der Schulter.
    Pankratius, der Vormittag
    K ein Jahr ist wie das andere. Ob Mitte Mai Kaltluftvorstöße aus den Polargebieten nach Nordrhein-Westfalen einströmen oder nicht, entscheidet nicht der Kalender, sondern die Wetterlage im Norden. Wenn im Spätfrühling ein Hoch über Großbritannien oder Skandinavien kalte Luft auf den Kontinent drückt, erfriert hier alles, was im Mai schon zu leben gewagt hatte: Tod durch Meteorologie. Kaum jemand verhält sich so gesetzestreu wie das Wetter, und trotzdem ist niemand so unberechenbar. Die besten Trefferquoten erzielt man nach wie vor durch Vorhersage der aktuellen Wetterlage für den folgenden Tag, denn statistisch gesehen ist das Wetter von morgen wie das von heute. Nur die abergläubischen Bauern warten jeden Mai mit der Aussaat, bis die Eisheiligen durchs Land gezogen sind. Und sie haben fast immer Recht.
    Beim Aufwachen konnte Ada riechen, was geschehen war. Ein Wintermorgen, schwerer als die körperwarme Luftwatte im Zimmer, stürzte wie ein unsichtbarer Wasserfall durch den Spalt des gekippten Fensters und überflutete das Bett. Der kleine Pankratius in seinem Harnisch aus Frost und Reif, mit steifem Nacken und der Kennziffer Zwölf auf dem Rücken, hatte das Land durchquert. Es roch nach Kälteeinbruch, nach einzeln herabtaumelnden Schneeflocken, verkrampfter Erde und kahlen Ästen. Ada schlug die Decke zurück und blieb noch eine Weile liegen, atmete durch den offenen Mund, bis die Kälte ganz von ihr Besitz ergriffen hatte, und sah dem Entstehen und Vergehen der Dampfwolken vor den Lippen zu. Als sie endlich aufstand, war es zu spät fürs Frühstück. Die Wohnung hielt still, verschlossene Türen erzählten Lügenmärchen vom friedvollen Alleinsein in den eigenen vier Wänden. Ada freute sich auf die Straße. Die Autoreifen machten ihr Wintergeräusch.
    Pankratius war in diesem Jahr auf einen Mittwoch gefallen. Im Zeitraffer zog das Wetter über einen schlecht ausgeleuchteten Himmel, die Menschheit hatte sich in graues Kaschmir oder bunte Wolle gewickelt und kratzte mit leeren CD-Hüllen die letzte winterliche Sondervorstellung des Jahres von den Autoscheiben. Niemand sprach. Niemand zwitscherte. Die Katzen hockten hinter Glas auf Fensterbrettern und sahen stumm hinaus. Auch in Ada war es kalt und still, so dass sie instinktiv die Schuld an diesem Morgen auf sich nahm. An der Ecke, wo Alev immer auf sie gewartet hatte, ging sie ohne Zögern vorbei.
    Nach der Unterredung mit Olaf hatte sie das ganze Wochenende bleischwer auf dem Bett verbracht, ein Telefon unter dem Kopfkissen, das zu Smuteks Außenminister geworden war und regelmäßig in seinem Namen Gehör verlangte. Ada ging nicht dran. Die Gier nach Montag war auf einen weltweit bislang

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