Spieltrieb: Roman
Als sie nach der Schule heimgekommen war, hatte sie die Wohnung leer gefunden, kein Zettel lag auf dem Tisch. Weil die Mutter außerhalb ihrer festgelegten Einkaufs- und Friseurzeiten selten aus dem Haus ging, befürchtete Ada, selbst Anlass dieser plötzlichen Exkursion zu sein.
Unmittelbar nach dem Verschwinden des Brigadegenerals vor zwei Jahren hatte die Mutter ihre frisch gebackene Menschenscheu einige Male überwunden und ihrem Mädchen in der Innenstadt eine neue Außenhülle gekauft, die, frei nach der Regel, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, ein attraktives, leichtherziges junges Ding aus ihr machen sollte, das ohne weiteres mit der schwierigen Familiensituation zurechtkommen würde. Ada hatte die bunten Sommerkleider, schmal geschnittenen Stoffhosen und gemusterten Pullover mit spitzen Fingern in die Luft gehalten, sich nicht gefreut, sondern den Kopf geschüttelt und mit trauriger Stimme den immer gleichen Satz gesagt: Mutter, das ist nichts für mich. Sie sei nicht der Typ, sie habe Läuferbeine, einen großen Kopf und wenig Oberkörper, bis auf das, was man gemeinhin als dicke Titten bezeichne, und weil die Mutter nicht aufhören wollte, ihr zu schildern, wie nett sie in den richtigen Kleidern aussehen könne, ließ sie sich eines Tages zu der Bemerkung hinreißen, dass ihr der eigene Körper herzlich zuwider sei und sie wahrscheinlich magersüchtig würde, wenn sie dafür nicht zu träge wäre. Ab diesem Moment galten die Ausflüge in die Stadt einem Psychologen mit quadratischem Schädel, auf dem noch wenige, weiße Haare wuchsen.
Zunächst geduldig, dann mit zusehends versteinertem Lächeln hörte der Mann sich Adas ellenlange Ausführungen darüber an, dass seine Wissenschaft einigermaßen verschwendet sei an einen Geist, der nicht an das Vorhandensein von etwas wie >Seele< glaube, stellte daraufhin eine Serie von Warum-Fragen und kam zu dem Schluss, dass Ada nicht krank, sondern restlos unterfordert sei. Alle Bücher, die er vorschlug, hatte sie schon gelesen. Eine Klasse zu überspringen war nicht empfehlenswert für ein Kind, das schon jetzt ein bis zwei Jahre jünger war als die Kameraden. Eine Selma ließ sich weder aus dem Hut zaubern noch aus Bosnien zurückholen. Er riet der Mutter abzuwarten und sich nicht zu viele Sorgen zu machen.
Nach Adas Rauswurf aus dem Nikolaus-Kopernikus-Gymnasium saßen sie wieder im gelb gestrichenen Warteraum, blätterten in Psychologie heute, und die Mutter trug ihr SiehsteGesicht zur Schau. Diesmal lag der Grund für den Besuch, mit mütterlicher Intuition vorausgeahnt, konkret und unabweisbar auf der Hand. Nach Ansicht der Mutter war in Adas kleiner Ausschweifung auf Nikolaus-Kopernikus eine Aberration kulminiert, die Folge der unschönen Trennung ihrer Eltern war. Aber Ada glaubte nicht an Familientraumata und auch immer noch nicht an die Seele. Wie Hausierer klapperten sie drei weitere Arztpraxen ab, bevor das Kind amtlich als therapieresis-tent galt. Vor dem Fahrradkeller stehend, hoffte Ada inständig, dieses Faktum kein weiteres Mal vor berufener Stelle erläutern zu müssen.
Es war frühlingshaft warm, die Bäume mit ihren vergilbten Kronen streckten noch einmal ihre Äste aus, um in die würzige Luft zu greifen. Aus dem Gebüsch am oberen Ende der Rampe drang der Lärm eines Spatzenkriegs. Die Musik war nur zu hören, wenn man unmittelbar vor der Metalltür stand. Ein Basslauf, ein paar Gitarrenriffs, die fast jedem Rocksong der vergangenen zwei Jahrzehnte entnommen sein konnten.
Als Ada das unverschlossene Tor aufgestemmt hatte, wurde es laut, und als sie die Tür zum Proberaum öffnete, noch viel lauter, dabei hatten die Ohren noch gar nicht richtig zu spielen begonnen. Der Ort, den sie vom Vortag kannte, war verändert durch die Anwesenheit der Band. Olaf und ein weiterer Junge lungerten auf je einer Couch, ihr Anführer stand mit beiden Beinen auf einem niedrigen Tisch, der Organist betrachtete sein Keyboard von der Unterseite, der Schlagzeuger war noch nicht da. Die Bassläufe stammten von Olaf. Jeder der Anwesenden schien ausschließlich mit sich selbst und seinem Instrument beschäftigt zu sein; weder Jungen noch Klänge hatten irgendetwas miteinander zu tun. Wenig Licht drang durch das schmale Fenster herein.
Nachdem Olaf mit den Augen gegrüßt hatte, setzte Ada sich allein auf die dritte Couch. Es war feucht und kühl, so dass sie keine Anstalten machte, die Jacke abzulegen. Der Schlagzeuger kam und ließ sich ohne ein Wort zwischen
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