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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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seinen Blechen und Bottichen nieder. Im Dämmerlicht wirkte Rocket auf dem Tisch trotz seines geringen Alters wie eine direkte Vorstufe zu Iggy Pop. Um seine mageren Glieder schlackerten die Kleidungsstücke einer größeren Person, ungepflegtes Haar verdeckte sein Gesicht, das er schräg zu Boden gerichtet hielt, auf die kleinsten Lebensäußerungen seiner Gitarre lauschend.
    Ada dachte darüber nach, wieder zu gehen, als der Schlagzeuger, bislang mit dem Drehen von Schrauben und der Auswahl der Sticks beschäftigt, zärtlich auf seinen Becken zu rasseln begann und schließlich zu einem simplen Rhythmus überging, den er stur auf den Aluminiumrand der wichtigsten Schüssel klopfte. Es dauerte eine Weile, bis Olafs Bass gehorchte. Sie konnte verfolgen, wie die Klänge sich ineinander schlangen, wie die Spieler sich blind aufeinander zutasteten, vertraut machten und langsam preisgaben, was sich in ihren Köpfen drehte. Und als sie endlich zu spielen begannen, lehnte Ada sich zurück. Seit Don Camisi hörte sie nur noch beim Laufen Musik, vor allem Evanescence, deren böse blickendes Front-Puppengesicht die Miene des totgeborenen Jahrhunderts auf ein CD-Cover gebannt hatte. Jetzt trieb sie plötzlich in ein offenes Meer aus Klängen hinaus, während alles, was sich in Klassenzimmern und Elternhäusern, auf Straßen, Trampelpfaden und Rennbahnen abzuspielen pflegte, an Land zurückblieb, kleiner wurde und verschwand. Die Zeit entspannte sich, floss in die Breite, bildete Minutenhaufen, Sekundenstrecken, Stundenpfützen und zuckte zusammen wie eine Qualle, in die man einen Finger gestochen hat, als Rocket den Kopf hob, mit Christusblick zur Betondecke aufsah und zu singen begann. Die Melodie kam Ada bekannt vor, ohne dass ihr der Titel des Liedes einfallen wollte.
    My god sits in the back of a limousine. My god comes in a wrapper of cellophane. Starfuckers incorporated.
    Eine Weile lang pflügten sie durch Coverversionen von Songs, die Ada aus dem Radio oder aus dem Nirgendwo kannte. Je länger sie zuhörte, desto besser gefiel ihr die Musik; trotz des massiven Garagenklangs, trotz umgangener Soli, die niemand von den Ohren auf die Reihe bekam, trotz Rockets Stimme, die letztlich besser zum Schreien als zum Singen geeignet war; trotz der Stellen, an denen das Miteinander in ein Handgemenge der Instrumente überging. Als Rocket ein paar Takte anspielte, die sie wirklich erkannte, stand Ada sofort auf. Evanescence. Er musste es erraten haben. Vielleicht ging er simpel davon aus, dass Mädchen Musik von Mädchen mochten.
    Ada hatte nie im Leben gesungen. Beim Rennen flüsterte sie manchmal die Texte ihrer Lieblingsstücke mit. Und das Gleiche tat sie jetzt: Flüstern. Rennen, wenn auch nur im Geiste. Sie fasste das Mikro mit beiden Händen, führte es vor den Mund und verzichtete darauf, die Schraube zu fixieren. Als sie die Augen schloss, sah sie Olafs kindliches Gesicht vor sich, sah, wie er sie bei einer Hand nahm, die nicht mehr zu ihr gehörte, sah ihn davongehen mit ihrer Außenhülle, sie langsam führend, das Instrument auf dem Rücken. Eine staubige Straße, schnurgerade, Richtung Horizont. Hartes Steppengras und weißer Himmel. Dann das Logo von MTV.
    My god, my tourniquet, return to me salvation.
    Unbekannte Textstellen ersetzte sie durch Phantasiewörter und hinzuerfundene Passagen. Beim zweiten Durchgang - es musste ein zweiter Durchgang sein, denn der Text ging ihr aus, während die Musik weiterlief - erhob sie die Stimme. Während sie sang, begannen Bilder in ihrem Kopf zu laufen, jagten einander, überlagerten sich, suchten eine Reihenfolge. Diesen Zustand kannte sie von der Aschenbahn und von den Minuten kurz vor dem Einschlafen.
    Auch wenn der Soundtrack zu Daredevil mit zwei Liedern von Evanescence erst sechs Monate später auf dem amerikanischen Markt erschien; auch wenn die Musik zum damaligen Zeitpunkt noch nicht komponiert, vielleicht nicht einmal angedacht oder erträumt war, mussten die Ohren sie an jenem Septembernachmittag im Fahrradkeller doch gespielt haben. Ganz genau erinnerte Ada sich später daran, detailliert konnte sie beschreiben, wie sie zu diesem Song über eine komfortabel erbaute Zeitbrücke in die Vergangenheit geschritten war, nur drei Monate zurück in jene Julinacht, in der sich mehrere hundert Schüler zur Schuljahrsabschlussparty in der Mehrzweckhalle von Nikolaus-Kopernikus versammelt hatten. Wirklichkeit ist ein anderes Wort für das, woran Zeugen sich erinnern.
    Now I will

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