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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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beschaulich, bescheiden, umwölkt von Lebkuchen- und Fischgeruch und ein bisschen grundloser Traurigkeit. Ada und ihre Mutter feierten Weihnachten zu zweit vor einem kleinen Tannenbaum, beschaulich, bescheiden, die Mutter weinte viel, wobei Gründe seit längerem keine Rolle mehr spielten. Olaf und seine Eltern feierten zu dritt, die große Schwester war dieses Jahr nicht gekommen, weil sie ein Auslandssemester in Moskau verbrachte, der Schnee dort zu hoch war und der Weg zu weit. Der Tannenbaum reichte bis unter die Decke und trug echte Wachskerzen, und Olaf wusste wenigstens, warum er traurig war. Seine Schwester hatte einen Brief geschrieben, in dem sie ausführlich die politischen Verhältnisse in der Russischen Föderation analysierte. Außerdem enthielt der Umschlag einen weiteren, in dem ein noch kleinerer steckte, und immer so weiter nach dem Matrioschkaprinzip, alle diese Umschläge waren für Olaf, und im letzten stand, dass sie ihn vermisse. Es gab Geschenke und mehr zu essen als sonst.
    Höfi und seine Frau feierten Weihnachten vor einer Vase mit Tannenzweigen, die Frau lag auf der Couch zurechtgebettet, eingewickelt wie eine Made, und lächelte aus den Decken heraus in die bunten Kugeln, in denen sich Kerzenlicht und weitwinklig verbogene Miniaturen ihrer Gesichter spiegelten. Es gab keine Geschenke, Höfi hielt den ganzen Abend die Hand seiner Frau, und es wurde eigentlich mehr gelacht als geweint.
    Silvester verging, ohne dass wir etwas davon wissen müssten. Das neue Jahr sah dem alten zum Verwechseln ähnlich.
    Ada las sechs Bände der Menschlichen Komödie, fühlte sich körperlich unwohl, als hätte sie eine Balzac-Vergiftung, und war froh, als nach dem Besuch der Heiligen Drei Könige, die für ein paar alberne Süßigkeiten ihre Kreidezeichen an den Türbalken malten, im Januar die Schule wieder begann.
    Am ersten frostfreien Tag im März fuhren Smuteks Planierraupen vor und zogen binnen weniger Stunden eine zweite, ovale Umlaufbahn. Abends betrachtete Smutek das sandige Bett der geplanten Laufstrecke mit Erstaunen, es sah aus wie die Trasse einer kleinen, im Kreis führenden Autobahn. Teuter hatte die Strategie begriffen, sein Mäntelchen nach dem Wind gehängt und die Idee auf der Lehrerkonferenz so überschwänglich gelobt, dass Smutek es nur als Kampfansage verstehen konnte. Aus Prinzip waren dem Schulträger drei neue Rechner für den Computerraum abgetrotzt worden, weil mediale Bildung ebenso wichtig war wie Sport. Damit kam die Angelegenheit vom Tisch. Eine Woche später fielen die ersten Bomben auf den Irak.
    Idee und Vorbereitung zu Olafs Entjungferung
    D ie Idee zu Olafs Entjungferung stammte von Rocket. Er hatte selbst noch nie eine Freundin gehabt, ging dafür regelmäßig ins örtliche Bordell und bezahlte die immer gleiche junge Frau für eine Handreichung, die preiswert und für seine Bedürfnisse völlig ausreichend war. Im Juni sollte Olaf seinen sechzehnten Geburtstag feiern, und Rocket fand, dass es an der Zeit war, ihn aus der Ruhe zu bringen. Olaf sprach nie über Sex, man konnte nicht einmal ahnen, woran er beim Onanieren dachte. Wurde in seiner Gegenwart über Frauen gefachsimpelt oder gelacht, hielt er ein buddhistisches Lächeln bereit, das den Unerleuchteten verzieh und Rocket auf die Palme brachte. Rocket war sicher, dass Olaf einen Geschenkgutschein für den Puff niemals einlösen würde. Als er Ada um Rat fragte, gab diese zu bedenken, dass Olaf sich über die neue, schwer zu beschaffende CD einer skandinavischen Heavy-Metal-Band wahrscheinlich mehr freuen würde als über eine noch so gut organisierte Geburtstagsnummer. Aber Rocket war wie immer fest entschlossen und stellte eine Respektsperson dar, der man nicht mehr als einmal widersprach.
    Die Schule war aus, der Hof leer gefegt, der überwiegende Teil der Schüler trudelte in diversen Elternhäusern ein, verlangte zu wissen, was es zu essen gebe, und wies Fragen über den Verlauf des Schultags streng zurück. Mit Fledermausohren hätte man die Küchengeräusche aus den offenen Fenstern der Internatsetage hören können. Es war der bislang wärmste Tag im Jahr, Ada und Rocket trugen kurzärmlige T-Shirts, hatten die Schnürsenkel ihrer Springerstiefel gelöst und die Schäfte auseinander gezogen, um Luft an die Füße zu lassen. Sie lehnten nebeneinander am Stamm der dicken Eiche, die ein eigenes, aus dem Schulhofasphalt ausgespartes Rondell mit flacher Mauer besaß, was bedeuten mochte, dass sie schon vor dem

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