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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Mathe-Wirger, »ist weg.«
    »Wie, weg?«
    Die Panik in Smuteks Blick war nicht zu übersehen. Seit Tagen belästigte ihn das Gefühl, nicht zu wissen, was als Nächstes geschah, und zwang ihn, überall nach Anzeichen einer bevorstehenden Katastrophe zu suchen, was sich jetzt zu akutem Nervenflattern steigerte. Begütigend wies Höfi auf den freien Klappstuhl.
    »Nicht tot«, sagte er. »Zum Halbjahresende gekündigt und vom Dienst suspendiert. Er lässt dich grüßen. Wie geht's deiner Frau?«
    »Danke. Physisch gut.«
    Höfi schlürfte ohne Unterbrechung und hatte die halbe Tasse leer gesogen, bevor Smutek die seine in Händen hielt. Traditionell gab es weder Milch noch Zucker. Smutek mochte keinen schwarzen Kaffee. Sonja löschte den Bunsenbrenner.
    »Während ihr in Dahlem ward«, sagte sie, »rief ein Schüler bei Teuter an. Klinger habe ihn sexuell bedrängt. Teuter hat das Ministerium unterrichtet und Klinger sofort entfernt. Er war noch in der Probezeit.«
    »Wer hat ihn angeschwärzt?«, fragte Smutek und dachte an die intensiven Blicke, die ihm der Kollege gelegentlich zugeworfen hatte.
    »Toni. Lange Haare und Pickel. Lebt im Internat.«
    »Ach du heilige Scheiße.« Smutek strich sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn. Er fühlte die Augen der Anwesenden auf sich gerichtet. Das war Nachschwitzen, ganz natürlich, vom Basketball.
    »Ahnst du, warum wir dich hergebeten haben?«, fragte Sonja und lehnte sich vor, dass er die Ansätze ihres mütterlichen Busens im offenen Kragen der Bluse sehen konnte.
    »Nein!«
    Er sprach zu laut. Mathe-Wirger drehte seine Tasse hin und her und schaute fasziniert hinein, als bemerkte er zum ersten Mal, dass sich die Flüssigkeit im Inneren an die Gesetze der Erdanziehung hielt.
    »Der Herr Höfling«, sagte Sonja und schüttelte die Schultern wie eine Sambatänzerin, »will dir etwas sagen.«
    Smutek fürchtete, in der nächsten Sekunde könne ihm etwas entgleiten, die Beherrschung, die Höflichkeit, die Regeln der Vernunft. Ausgerechnet jetzt wollte die Anspannung der letzten Wochen sich entladen. Bilder zogen ihm vor dem geistigen Auge vorbei, wie man es sonst von Sterbenden behauptet. Er sah das Holzhaus in Masuren, seine Frau im hohen Gras, seine Frau bleich und kalt auf der Fußmatte eines Landschulheims, Teuters höhnisches Grinsen, die neue Sportbahn, Adas laufende, arbeitende, stampfende Beine. Sein Atem ging schnell, das Schwitzen hörte nicht auf.
    »Hör zu.« Höfi sprach ruhig wie zu einem Kranken. »Vielleicht wurde dieser Toni gekauft. Oder genötigt. Vielleicht wusste Klinger zu viel, oder irgendjemand auf Ernst-Bloch hasst Schwule. Wir werden die Wahrheit nicht erfahren. Der Punkt ist, dass die Wahrheit keine Rolle spielt. Hast du verstanden, Smutek?«
    Dieser schreckte aus seinen Bildern hoch, zu denen Höfis Stimme den passenden Soundtrack geliefert hatte.
    »Nein!«
    »Die Vernichtung eines jeden von uns«, sagte Mathe-Wirger, »braucht so viel Zeit wie ein Gedanke, um von der linken Hirnhälfte in die rechte zu gelangen. Begreifst du jetzt?«
    »Frag mal in der Chefetage nach deinem Beliebtheitsgrad«, sagte Höfi und stellte die leer geschlürfte Tasse beiseite.
    »Was soll der Scheiß?«, fragte Smutek. »Glaubt ihr, ich hätte irgendeinen Hintern angefasst?«
    »Natürlich nicht«, meinte Höfi. »Aber Glauben, Wissen, Wollen und Geschehen haben nichts miteinander zu tun. Lass dir das von einem alten Historiker gesagt sein.«
    Die Schulklingel drang gedämpft vom Hauptflur herein. Geräuschvoll stand die Gruppe auf und klappte ihre Stühle zusammen.
    »Bis nächsten Montag«, sagte Sonja an der Tür, »gleiche Zeit, gleicher Ort.«
    Obwohl Smutek losstürmte auf seinen langen Beinen, holte Höfi ihn in der Mitte des verglasten Lufttunnels ein. Er musste wie das Schreckgespenst einer Geisterbahn auf Schienen hinter ihm hergerollt sein. Höfi war ihm der liebste unter allen Kollegen, aber in dieser Sekunde hätte er die ewige Hand auf seinem Unterarm am liebsten beiseite geschleudert und wäre seiner Wege gegangen. Im Flüsterton sprach Höfi wenige Sätze in sein herabgebeugtes Ohr und lief grußlos weiter, der geheime Kurier eines mafiosen Spiels.
    Der Empfänger der Botschaft blieb bleich und reglos im Lufttunnel zurück, sah zu, wie Schüler von rechts und links an ihm vorbeihasteten, geräuschlos und im Zeitraffer, was an einer vorübergehenden Verlangsamung seiner kognitiven Tätigkeiten lag. Er fühlte sich abgetrennt vom Geschehen,

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