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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Kopf, das Fehlen von Gründen, von Sinn oder Zweck birgt den höchsten Schrecken. Aus Nichts und aus Etwas kann Gutes wie Schlechtes entstehen. Möglicherweise hast du Frau Smutek aus dem Eisloch gezogen, weil dir etwas fehlt.«
    »Ich glaube, an etwas Ähnliches dachte ich, während ich ins Wasser stieg.«
    »Siehst du.« Mit Liebe zerquetschte Alev die ausgerauchte Kippe im Inneren des Deckels. »Die Tatsache, dass du bei deinen Nachforschungen in dir selbst nichts gefunden hast, spricht nicht gegen meine Theorie. Vielleicht bist du schon auf No-thing gestoßen, auf eine Leerstelle, die dir nur auffallen könnte, wenn du wüsstest, was an diesem Platz bei anderen, sagen wir, bei normalen Menschen zu finden ist. Dafür muss man die Menschen studieren. Zu diesem Zweck unternehme ich Streifzüge durch unsere kleine Zivilisation auf Ernst-Bloch.«
    Ada dehnte wohlig die Beine unter der Decke und kaschierte die Bewegung mit einem Gähnen. Diese Erklärung für Alevs penetrantes Eindringen in die Leutewelt gefiel ihr wesentlich besser als die Vorstellung, er sei einfach ein soziales Wesen, das täglich um den besten Platz im Rudel kämpfe.
    »Wie kommst du darauf«, fragte sie, »dass uns beiden etwas, oder besser, dass uns nichts gemeinsam sein könnte?«
    »Ich habe von mir auf dich geschlossen. Ein irrationales Verfahren, ausgelöst durch Unerklärliches, einen Geruch oder das Fehlen eines Geruchs oder deine Art, an den Dingen vorbeizusehen. Wahrscheinlich steckt eine kindische Sehnsucht nach meiner zweiten Hälfte dahinter. Mehrmals dachte ich schon, auf jemand Verwandtes gestoßen zu sein. Es hat sich immer als Täuschung erwiesen.«
    »Mir kommen die Tränen.« Ada hatte sich gut genug unter Kontrolle, um zu verbergen, dass eine kleine Stelle direkt unter dem Solarplexus auf seine Gesänge reagierte. »Willst du hören, zu welchem Ergebnis ich beim Nachdenken gelangt bin?«
    »Avec plaisir.«
    »Einem Griechen oder Römer vor zweitausend Jahren wäre deine Behauptung, als ein Stück Gott oder Teufel auf Erden zu wandeln, weniger absonderlich erschienen. Warum also sollte ich dich mit den Augen eines Christen betrachten?«
    »Kleinchen, ich wusste, du würdest mich verstehen.«
    »Was hätte ein Polytheist dir geantwortet?«
    »Klär mich darüber auf.«
    »Sehr einfach: Beweis es.«
    Er betrachtete sie mit Augen, die flach und blank spiegelten wie schwarze Jetons. Dann strömte Leben in seine Miene, er ließ eine Hand auf den Oberschenkel klatschen, krümmte sich und begann lautlos zu lachen.
    »Das ist wunderbar«, flüsterte er, wieder bei Atem. »Du willst ein Spiel?«
    »Nenn es, wie du magst. Beweise dich.«
    »Okay, okay.« Alev rieb sich die Hände, strich sich durch das drahtige Haar, wollte aufstehen, blieb sitzen und ergriff Adas Hand so fest, dass sie nicht ausweichen konnte.
    »Wie wäre es«, fragte er, »wenn übermorgen ein Lehrer von Ernst-Bloch flöge? Wenn deine Mutter dir kurz nach den Weihnachtsferien das Zimmer durchwühlte und Teuter versuchte, dich mit einer Disziplinarkonferenz von der Schule zu werfen?«
    Ada spürte ihre Wangen kalt werden, im Magen entstand Unterdruck und sog das Blut aus dem Kopf, bis die Gedanken stockten. Sie wollte keinen weiteren Rausschmiss, nicht jetzt, nicht von Ernst-Bloch.
    »Was soll das sein«, fragte sie leise, »eine Prophezeiung?«
    »Nur Götter können in die Zukunft sehen. Wenn ich Recht habe, wirst du dann mit mir zusammenarbeiten?«
    »An was?«
    Diese simple Frage brachte ihn aus dem Konzept. Die Brauen gerunzelt, wartete er auf Antwort aus dem eigenen Kopf.
    »Das weiß ich noch nicht«, sagte er schließlich, stand auf, bückte sich nach dem Tablett und war schon an der Tür. Indem er mit dem Ellenbogen die Klinke drückte, schaute er über die Schulter, kniff schelmisch ein Auge zu und ließ sie allein.
    Kaum dass er die Tür geschlossen hatte, vergaß er Ada ebenso gründlich, wie er sie mit Haut und Haaren zur Kenntnis nahm, wenn er vor ihr saß und sie zum Leben erweckte wie ein batteriegetriebenes Spielzeug, das man jederzeit aus dem Regal nehmen und einschalten kann. Jedenfalls glaubte sie das. Vermutlich hatte jeder seiner Bekannten einmal am Tag für fünf Minuten das Gefühl, seinem besten Freund oder ärgsten Feind gegenüberzusitzen. Es machte sie wütend, dass es ihm immer wieder gelang, sie aus der Reserve zu locken. In einem Punkt sprach der Verstand klar wie eine Mutter zu ihr: Sie hätte besser daran getan, ihre Truppen abzuziehen

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