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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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entgegen.
    Ungern ließ er sie am Montagmorgen allein, bat, sie möge nicht aus dem Bett aufstehen, bis er zurückkäme, und verspürte doch eine kleine, bösartige Erleichterung, nachdem er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen hatte.
    Er war nicht gut drauf. Mehrmals musste er dem aggressiven Quietschen der Nike- und Reebok-Systeme auf dem Turnhallenboden entfliehen, um sich in der Lehrerumkleide ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht zu klatschen. Als er sich wieder einmal tief über das Waschbecken beugte, vernahm er eine Stimme, glaubte erst an akustische Fata Morganas und die Vorboten eines Nervenzusammenbruchs und entdeckte schließlich eine bucklige Gestalt im Spiegel. Höfi stand so eng an den Türrahmen geschmiegt, als könnte er sich allein nicht aufrecht halten.
    »Hallo? Unter der Schädeldecke jemand zu Hause?«
    »Das fragte ich mich auch gerade.« Smutek trocknete Gesicht und Hände am Handtuch an der Wand. »Hast du gerade gesagt, dass ich in der großen Pause in die Chemiekammer kommen soll?«
    »Haargenau. Du weißt, wo das ist?«
    Die Chemiekammer befand sich im zweiten Stock des Altbaus, am hinteren Ende eines Saals, der mit seinem Inventar aus Ernst-Blochs persönlicher Gründerzeit zu den Dingen gehörte, auf die die Schule stolz war. Dank eines komplizierten Stunden-plan-Scrabbles fanden alle naturwissenschaftlichen Kurse der Oberstufe dort statt. Manch ein Liter Flüssigsauerstoff war, begleitet vom entsetzten Kreischen der Schüler, wie ein verdampfender Wassertropfen auf der Herdplatte zwischen den aufklappbaren Schulbänken umhergeflitzt. Unterhalb des erhöhten Lehrerpults war der Linoleumboden eingedellt von der jährlichen Wiederholung des simpelsten aller Experimente, bei dem Lindenhauer eine große Stahlkugel aus drei Meter Höhe fallen ließ, um die grausame Macht der Schwerkraft zu demonstrieren. Meist umzingelten Formeln den Raum, die der alte Physiklehrer mit Kreide auf die langen Schiefertafeln oder direkt aufs Mauerwerk schrieb, wobei er auf langen Beinen wie ein verrückter Storch über Tische und Stühle kletterte und auch die Türen an der kurzen Raumseite gegenüber der Haupttafel nicht verschonte. Hinter einer dieser Türen befand sich eine badezimmergroße Kammer, die vor allem Regale mit Apothekerflaschen in Giftmischerbraun enthielt. Hier kochte die Chemikerin Sonja Rosenhof seit zwanzig Jahren Kaffee in einem Erlenmeierkolben. Jeden Montag in der ersten großen Pause bewirtete sie einen exklusiven Kreis von drei Lehrern, die auf ihren Klappstühlen so eng beieinander saßen, dass sie mit den Kniescheiben zusammenstießen. Der alte Singsaal hatte die Idee lustig gefunden und gelegentlich den Kopf zur Tür hereingestreckt. Teuter hingegen fürchtete die Treffen als konspirative Sitzungen eines feindlichen Geheimbunds. Seine Versuche, einen Beobachter zu entsenden, waren an der Enge der Kammer gescheitert. Smutek war sich im Klaren darüber, was die Einladung bedeuten musste: Jemand fehlte.
    Nach der Sportstunde beeilte Smutek sich mit dem Duschen und Ankleiden. Vor der richtigen Tür hob er die Hand zum Anklopfen und hielt die Kreidezeichen auf dem Holz in einem Sekundenirrtum für das C+M+B der Heiligen Drei Könige. Christus Mansionem Benedicat. Auf den zweiten Blick erkannte er Einsteins E = mc 2 . Fast hätte er die Formel als Losungswort genannt, als die Tür sich einen Spaltbreit öffnete und er sich unvermittelt Sonja Rosenhofs prüfender Miene gegenübersah. Sie war mit Ausschenken beschäftigt, trug wie jeden Tag eine ihrer unzähligen bunten Blusen, die zu ihren ebenso zahlreichen Launen passten, und hatte die rot gefärbte Mähne kokett in der Stirn. Höfi wiegte den Oberkörper wie ein hospitalistischer Pavian. Neben ihm saß Mathe-Wirger, der sich den Schülern als Würger mit >i< vorzustellen pflegte, und sträubte den schwarzen Proletenschnurrbart, indem er die Oberlippe über den Schneidezähnen spannte. Wie jeder Lehrer auf Ernst-Bloch wusste Smutek, wer zur Chemiekammerbesetzung gehörte. Es entfuhr ihm anstatt einer Begrüßung: »Wo ist Klinger?«
    »Seit ich hier Kaffee koche«, Sonja strich sich das rechte Auge frei, um Smutek verheißungsvoll anzusehen, »hat unsere Besetzung zweimal komplett gewechselt. Das Leben schwemmt Menschen an und trägt sie wieder fort.« Sie war in literarischer Stimmung und klang wie eine Telefonistin, die einen verärgerten Kunden von der Reklamation abzuhalten hat.
    »Der kleine Klinger«, sagte

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