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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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und in die befriedete Festung zurückzukehren. Aber sie wollte keinen Seelenfrieden. Etwas in ihr hatte längst beschlossen, das zu werden, was Alev suchte. Selbst wenn es nichts war.
    Während sie ruhig auf dem Rücken lag und die Wärme des Ärgers genoss, wuchs auf gründlich gepflügtem Boden die Überzeugung, dass nun bevorstand, wonach sie sich seit Wochen sehnte. Das Lauern und Tänzeln würde ein Ende finden. Etwas vollzog sich, etwas lief auf etwas hinaus. Und das war allemal besser als ...
    Ada beschloss, es für den Moment gut sein zu lassen, schloss die Augen und suchte in allen Winkeln des Körpers nach Müdigkeit und dem Wunsch, tief und traumlos zu schlafen.
    Den letzten Tag der Kursfahrt verbrachte sie schweigend und in sich zurückgezogen. An der simulierten Stadtführung durch Wien nahm sie nicht teil, und am Sonntag trat sie als Erste mit ihrem Rucksack ins Freie, um sich einen Platz im Bus zu sichern.
    Die Chemiekammer
    I m Nachhinein kehrte sich das alles gegen ihn. »Es ist mir Wunsch und Bedürfnis, das Mädchen zum Essen einzuladen«, sagte Frau Smutek. »Ich werde etwas für sie kochen. Eine polnische Spezialität.«
    »Bislang konntest du gar nicht kochen«, sagte Smutek.
    »Bislang konnte ich auch nicht sterben«, erwiderte sie.
    »Dachte ich zumindest.«
    Eigentlich hasste Frau Smutek Küchenarbeit fast so sehr wie die ehemalige Volksrepublik. Dass sie nun in Erwägung zog, sich an den Herd zu stellen, war eine von vielen Veränderungen, die sich ausbreiteten wie eine Mehlfliegenplage. Zu Smuteks Erstaunen erfassten sie in kürzester Zeit das ganze gemeinsame Leben.
    Frau Smutek hatte darauf bestanden, trotz des Vorfalls bis zum Schluss an der Kursfahrt teilzunehmen, und sie besiegelte ihren Entschluss mit drei Wörtern, die sie jedem entgegenzischte, der nach ihrem Befinden fragte: Nichts - ist - passiert, und je öfter Smutek diesen Satz hörte, desto unheimlicher wurde er ihm. Lauter als alle anderen hatte Frau Smutek gelacht und geklatscht, als Höfi und er auf der Abschlussfeier einen Wiener Walzer miteinander tanzten.
    Seit dem Moment aber, da sie die heimatliche Wohnung betreten hatten, lag sie auf der Wohnzimmercouch unter einer bunten Patchworkdecke vergraben und schoss aus dieser Verschanzung Pfeile ab, sobald Smutek in Sichtweite geriet. Er kochte Tee, eine Kanne nach der anderen, nahm ihr die erkaltete Tasse aus den Fingern, ersetzte sie durch eine frische und verbrachte die anschließende Zeitspanne bis zum erneuten Abkühlen ratlos auf einem Küchenstuhl.
    Er sei ein Versager. Er habe seine Ideale verraten, wobei Smutek sich wunderte, welche Ideale sie meinte. Er sei, und das hinterließ ihn sprachlos, nicht einmal ein richtiger Pole. Die Pfeile trafen gut, manche blieben stecken. Trotzdem waren die Angriffe immer noch besser zu ertragen als jenes knöcherne Schweigen, das ebenfalls zu ihren neuen Angewohnheiten gehörte. Nach jeder Attacke sank sie in die Kissen zurück und verbarg das Gesicht an der Sofalehne. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, schaute sie zum Fenster hinaus, vor dem es weder Sonne noch Regen gab. Ihr schmaler Körper war zäh und hatte die Kälte folgenlos überstanden. Aber Geist und Seele waren schwach und kränkelten, als wären sie im eisigen Wasser abgefroren.
    Hätte er sie an jenem Abend nicht hinauslassen dürfen, obwohl sie mit lieblicher Hartnäckigkeit darauf bestanden hatte, sich die Beine zu vertreten - und zwar allein? Hätte er ihr heimlich folgen müssen, um zu erkennen, dass sie ohne Schuhe und Jacke in die Kälte ging? Schlimmer als alles war der Gedanke, sie zürne ihm nicht wegen des Unfalls, sondern im Gegenteil -wegen ihrer Rettung. Weil er seine Aufsichtspflicht verletzt hatte, war eine minderjährige Schülerin mitten in der Nacht durch den Wald gerannt und hatte das halb tote Schneewittchen aus dem Teich geborgen. Ein Mensch kann auf ungezählte Arten schuldig werden.
    Auch bei angestrengtem Nachdenken fiel Smutek kein einziger Grund ein, aus dem seine Frau sich einen vorzeitigen Tod hätte wünschen sollen. Der Teil von ihr, der möglicherweise freiwillig in den Teich gestiegen war, hatte nicht mehr mit ihm zu tun als jede beliebige fremde Person unten auf der Straße, und Smutek plante nicht, ihn besser kennen zu lernen. Ein Selbstmordversuch wäre ein unausdenklicher Verrat an ihrem Zusammenleben gewesen, das er als glücklich definierte. Lieber trug er die Schuld an einem Unglücksfall und nahm die Bestrafung dafür

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