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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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aufhören, übers Kochen zu reden. Wir werden diese Ada nicht zu uns einladen.«
    Aber Frau Smutek hörte schon nicht mehr zu, hatte sich einfach abgeschaltet, einen Hebel umgelegt, aus. Später nahm Smutek ihr die Tasse weg, von der sie nicht mehr trank, seit er das Zimmer betreten hatte, hob sie auf die Arme, trug sie ins Bett und deckte sie zu. Manchmal sah es aus, als wollte sie weinen, aber es wurde immer nur ein trockenes Flüstern daraus. Ich habe kein Land. Ich habe keine Heimat. Ich habe keine Eltern. Ich habe kein Hobby. Ich habe kein Kind ... - Du hast doch mich! - Vielleicht kann ich auch dich nicht haben, ohne Land, ohne Heimat, ohne Familie. Vielleicht habe ich nichts. Vielleicht muss das so sein, vielleicht ist das Nichts unser Schicksal, das Schicksal einer vertriebenen Generation. - Es gibt kein Schicksal, sagte Smutek. Es gibt nur uns.
    Er wollte nicht kämpfen, er war schwach. Die Worte schmeckten schal auf der Zunge, egal, ob er sie auf Deutsch oder Polnisch sprach. Er ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit kaltem Rotwein aus einer Flasche, die in der Tür des Kühlschranks stand. Es gab Sackgassen, in die man versehentlich hineingeriet und die man durch bloßes Umkehren nicht wieder verlassen konnte. Smutek wusste das. Es galt abzuwarten, bis der Stadtplan des Lebens neu gefaltet wurde, das Straßennetz sich um die eigene Achse drehte und man von selbst wieder freikam. Manchmal gab es einfach nicht mehr zu tun, sosehr man es auch wünschen mochte.
    An einem Tag kurz vor Weihnachten, der sich in nichts von seinen Vorgängern und Nachfolgern unterschied, erwähnte Frau Smutek die geplante Essenseinladung nicht mehr. Sie kam nie wieder darauf zurück. Aus den wenigen Worten, die sie miteinander wechselten, wurde Adas Name wie ein lästiger Schmutzfleck getilgt. Als ob kaum noch adafreie Sätze übrig wären, sprach Frau Smutek immer weniger, bis sie fast völlig verstummte. Sie verließ die Wohnung nicht mehr. Der Arzt verlängerte die Krankschreibung bis Jahresende und ermahnte Smutek, seine Gemahlin nicht beim Vergessen zu stören. Er empfahl, nicht von dieser Ada zu sprechen, nicht von Höfi, am besten gar nicht von Ernst-Bloch, auch nicht von Wasser, Kälte, Nacht oder Wald. Den Zustand des Schneewittchens nannte er ein depressives posttraumatisches Syndrom. Das brauche Zeit, Geduld und Besuche beim Psychologen nach Neujahr.
    Smutek war es gewohnt, depressive Menschen als Schwächlinge zu betrachten, die sich dem Leben nicht stellen wollten. Ebenso war er gewohnt, über alles zu sprechen, was ihn beschäftigte. Selbst unwichtige Details gerieten, wenn man sie verschwieg, in die Nähe der Lüge. Das Schweigen fiel ihm schwer. Höfi hatte sich durch seine impertinente Zurechtweisung als Gesprächspartner bis auf weiteres disqualifiziert, und außerhalb von Ernst-Bloch besaß Smutek keine Freunde in der kleinen Stadt am Rhein.
    So kam es, dass niemand davon erfuhr, wie sich die Arbeit mit der Leichtathletikgruppe saisonbedingt in ein einsames Lauftraining mit Ada verwandelte. Ada rannte bei jedem Wetter, und nachdem Smutek beschlossen hatte, Höfis Warnungen zu ignorieren, gab es keinen Grund, warum er sie nicht begleiten sollte.
    Während sie nebeneinander den gefrorenen Boden mit Füßen traten, eingebettet in eine Dampfwolke, umgeben von einem Gemälde in allen Klassen der Farbe Weiß, entschlüpfte Smutek der häuslichen Enge, weitete die Kehle und ließ eingesperrte Gedanken über die Zunge ins Freie rutschen. Wenn er selbst bemerkte, dass seine Reden zu persönlich gerieten, wechselte er ins Polnische. Ada reagierte ohnehin auf nichts, das er sagte. Ihr anhaltendes Schweigen machte es leicht zu glauben, dass sie seine Worte nicht zur Kenntnis nehme oder jedenfalls bis zum Ende des Trainings vergessen haben würde.
    Ohne es jemals vereinbart zu haben, verhielten sie sich im Unterricht so, als hätten sie nichts Bestimmtes miteinander zu tun. Smutek siezte Ada wie alle anderen und behandelte sie mit unterschiedsloser Höflichkeit, obwohl sie sich seit neuestem durch ein ganz spezielles Verhalten hervorzutun begann. Gemeinsam mit Alev versah sie die Arbeit von Hunden, die eine Schafherde umkreisen, ohne dass der Schäfer sie dazu aufgefordert hat.
    Die Erfolge des Deutschleistungskurses übertrafen alle Erwartungen und nahmen an manchen Tagen geradezu unnatürliche Formen an. Smutek gab sich nicht der Illusion hin, durch sorgfältige Vorbereitung und gekonntes

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